Vorgeschichte und Folgen des arischen Ahnenpasses: Zur Geschichte der Genealogie im 20. Jahrhundert. Arnshaugk 2013, 374 Seiten

Die folgenden Texte sind in diesem Buch in überarbeiteter und aktualisierter Form enthalten auf den Seiten 235 bis 310.

Genealogie 49. Jg. (2000) 1-17

Die Auseinandersetzungen zwischen Reichsnährstand und Reichssippenamt um die Kirchenbuchverkartung.

 

Ein Beitrag zur Geschichte der Genealogie in der Zeit des Nationalsozialismus.

 

Volkmar W e i s s

 

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Als mit Heinrich Himmler [1] und R. Walther Darré [2] 1933 zwei Diplom-Landwirte, die die praktischen Erfahrungen der Viehzucht auf die menschliche Gesellschaft übertragen wollten, in führende Positionen gelangt waren und bereits am 7.4.1933 das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen worden war, in dem bekanntlich der „arische“ Abstammungsnachweis gefordert worden ist, wurde die Genealogie zu einem Politikum von existentieller Bedeutung für den einzelnen und zentraler für die Gesellschaft. Dennoch gab es in den Motiven, warum die nationalsozialistischen Führungspersönlichkeiten die Familiengeschichts- bzw. Sippenforschung - wie sie dann hieß - förderten, tiefgreifende Unterschiede. Die Behandlung unseres Themas wird dadurch erleichtert, daß Ribbe [3] mit seiner Arbeit den vom Fachhistoriker schon lange dringend benötigten Rahmen abgesteckt hat, in dem wir uns im folgenden bewegen werden und dessen Kenntnis wir voraussetzen müssen.

 Den Fachleuten, die mit der nationalsozialistischen Ideologie verbunden waren, war klar, daß man, um die politischen Zielstellungen verwirklichen zu können, erst einmal die personen- und familiengeschichtlichen Quellen sichern, aufbereiten und mehr oder weniger zentralisieren mußte. Bereits 1933 wurden deshalb Anordnungen zum Schriftdenkmalsschutz erlassen, und es wurde bei den Kirchen mit einer Befragung begonnen, um den mengenmäßigen Umfang der in den Pfarrarchiven liegenden Quellen [4] abschätzen zu können. „Alle Urkunden, Akten und Schriftstücke, die Personenstandsaufzeichnungen umfassen, insbesondere die Kirchenbücher, Bürgermatrikel und Leichenpredigten, werden unter Schriftdenkmalsschutz gestellt.“ [5]

Es war die Zeit Jahrzehnte vor der Einführung des Computers, und das Arbeitsmittel und die Methode, die man kannte, um große Datenmengen aufzubereiten, waren die Karteikarte und die Verkartung. In den verschiedensten Zweigen der Verwaltung und Wirtschaft und der totalen Erfassung der lebenden und insbesondere wehr- und arbeitsfähigen Bevölkerung des Großdeutschen Reiches hat die Verwendung von Karteien bis 1945 zwar eine außerordentliche Perfektion [6] erfahren, war aber keine deutsche Erfindung oder Besonderheit. 

Schon am 21.6.1933 [7] propagierte Achim Gercke auf der Hauptversammlung der Leipziger „Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte“ den Gedanken einer universalen Zentralkartei, die auch die historischen Personaldaten und damit alle Daten der auf 350 000 Bände geschätzten deutschen Kirchenbücher umfassen sollte. Johannes Hohlfeld, der Geschäftsführer der Zentralstelle, verlangte hingegen in einem programmatischen Vortrag auf der Tagung des Gesamtvereins Deutscher Geschichts- und Altertumsvereine am 5.9.1933 [8] in Königsberg ein anderes methodisches Vorgehen und daß Ort für Ort nacheinander bearbeitet werden sollte, da man nur auf diese Weise stets auf gesicherten Ergebnissen aufbauen könne. Hohlfeld ging  - nach Abstimmung mit dem Vorstand des „Herold“ in Berlin - in einer Denkschrift an das Reichsministerium des Innern gegen die Pläne Gerckes vor. „Die Reichsanstalt für Sippenforschung wird die gesammelten Photokopien aus dem ganzen Reich zur Benutzung ausstellen und eine weitere Photokopie in der beschriebenen Weise verkarten. Durch eine groß angelegte Ahnenkartei, die sämtliche in den Kirchenbüchern vorkommenden Ahnen umfaßt, wird es möglich sein, eine große Reihe von Lücken in den Ahnentafeln zu überwinden,“ hatte Gercke geschrieben [9] , und Hohlfeld [10] meinte dazu: „Sämtliche Kirchenbücher werden alphabetisch verzettelt. Durch Zerschneiden der Photokopien geht es allerdings nicht, die Kirchenbücher müssen verzettelt werden. ... Aber was ist denn gewonnen? Der Rohstoff der Quellen ist immer wieder nur in Rohstoff verwandelt - in eine Kartei von allerdings gigantischem Ausmaß. ... Über diesen gigantischen Plan sei offen und deutlich das Urteil gesprochen, das er verdient: es ist der dilettantischste Plan, den je ein Mann aufgestellt hat von einer Sache, von der er nichts versteht. Mit der ganzen Naivität eines Dilettanten sind hier Dinge hoffnungslos durcheinander geworfen, die so gar nicht zu vereinigen sind. Der Schriftdenkmalsschutz ... ist überhaupt nicht zu verbinden mit dem Problem der wissenschaftlichen Auswertung des Inhalts der Kirchenbücher. Diese kann überhaupt nur im Wege orts- und landesgeschichtlicher, hauptsächlich aber sozial- und sippengeschichtlicher Einzelforschung, niemals im Wege einer zentralen Gesamtbearbeitung der Kirchenbücher erfolgen. Das ist für jeden gebildeten Historiker eine Selbstverständlichkeit.“ Gercke hatte sehr weitgesteckte und extreme Pläne, deren Verwirklichung selbst unter den neuen Machtverhältnissen eher utopisch oder politisch naiv war und mit denen er sich überall Gegner machte [WB1]   [11] , so daß er 1935 als Leiter der „Reichsstelle für Sippenforschung“ durch Kurt Mayer abgelöst worden ist. (Obwohl diese Reichsstelle erst 1940 in „Reichssippenamt“ umbenannt wurde, werden wir der Kürze wegen diese Bezeichnung im folgenden verwenden.)

 

Aufgaben und Standpunkte der Kontrahenten Reichssippenamt und Reichsnährstand

Bei den im folgenden belegten fachlichen und ideologischen Meinungsverschiedenheiten darf man nicht vergessen, daß alle Kontrahenten in die NSDAP und mit verschiedenen Diensträngen in die SS eingebunden waren und es in der Zielstellung in wesentlichen Dingen grundsätzliche Übereinstimmung gab. So gehörte die Stabshauptabteilung G „Blutsfragen des deutschen Bauerntums“ im Reichsnährstand (RN) des Reichsbauernführers Darré zugleich zum Rassenamt der SS, das bis September 1938 ebenso unter Führung von Darré stand, und der Stabshauptabteilungsleiter, SS-Standartenführer Dr. Rechenbach, ist ab 1936 in dieser Eigenschaft zugleich Amtsleiter der Reichsleitung der NSDAP im Reichsamt für Agrarpolitik. Während  Darré alle Familien der Erbhofbauern nach der Reihenfolge ihrer Eintragungen in einem „Sippenbuch“ erfassen wollte, das so etwas ähnliches wie ein Herdbuch werden sollte, hatte die SS vor, ein analoges SS-Sippenbuch zu schaffen. Bei der Besprechung von Darré mit Himmler am 21.1.1935 gab es deshalb grundsätzliche Übereinstimmung für ein gemeinsames Vorgehen, und es lag bereits ein voll ausgearbeitetes Exemplar einer Sippen-Lochkarte vor. [12] Man rechnete mit insgesamt 1 Million Familien und 350 000 Reichsmark Kosten für die vereinigte Kartei.

 

An eine fundierte Biographie des Obersturmführers im Stabe des Reichsführers SS Dr. Kurt Mayer (1904-1945), dem Leiter des Reichssippenamtes [13] (RSA), hat sich bisher noch kein Historiker herangewagt. Wenn man viele Tage in einem Archiv über Akten sitzt, die von Mayer gezeichnet worden sind, macht man sich Gedanken, um welchen Menschen es sich eigentlich gehandelt hat. Es können hier nur einige grundsätzliche Feststellungen getroffen werden: Das Hauptmotiv der beruflichen Arbeit Mayers im Sippenamt war zweifellos ein politisches. Ihm ging es in allererster Linie darum, möglichst rasch alle Kirchenbücher des deutschen Sprachraumes zu verzetteln, damit eine sichere Grundlage geschaffen würde, alle Juden und Judenmischlinge aufzuspüren. In einer Akte [14] , die Pläne enthält, RSA und RN letztendlich zu vereinen, kann man aus seiner Feder mit Datum 17.11.1942 den sein Tun rechtfertigenwollenden Satz lesen: „Ich habe mich die ganzen Jahre über immer nur gewissermaßen als Platzhalter für den Reichsführer SS gefühlt“ (also für Himmler). Dieser Satz sollte meiner Meinung nach einer Biographie Mayers voranstehen. Für wissenschaftliche Fragestellungen hatte Mayer wenig Sinn, bekannt waren sie ihm aber (wenn er auch selbst, nach seiner Dissertation [15] , nie mehr auch nur eine größere Arbeit veröffentlicht hat und ganz im bürokratischen Betrieb aufgegangen ist). Mayer war, was genealogische Quellenkunde betraf, ein Fachmann, der sich in Staatsverwaltung, Partei und SS mit Geschick und Realismus bewegen konnte und der eine Bürokratie, die bis auf 100 Mitarbeiter anwuchs, effektiv leiten konnte, der aber nie Ergebnisse produziert hat, denen man auch wissenschaftliche Bedeutung hätte beimessen können.

 

Der RN war eine am parteipolitischen Führerprinzip orientierte berufsständische Einheitsorganisation, mit der Darré Marktregulierung und die Förderung des bäuerlichen Mittelstandes anstrebte. Bestandteil dieser Bestrebungen war eine romantische Blut-und-Boden-Ideologie [16] , für die Darré selbst - in den Anfangsjahren mit der ausdrücklichen Billigung und Förderung von Hitler und Himmler - geistiger Wegbereiter und Verantwortlicher [17] war und für deren Ausführung er die schon oben genannte Stabshauptabteilung geschaffen hatte, die unter Leitung von Dr. Horst Rechenbach (geb. 1895) [18] stand. Wenn wir es in der Sprache unserer Tage formulieren wollen, dann war es das Ziel Darrés und die Aufgabe dieser Abteilung, die Bauern für ihre Arbeit und ihre Heimat dadurch zu motivieren, daß ihnen mit Familiengeschichts- und Heimatforschung die geschichtliche Dimension ihres Seins vertraut gemacht werden sollte.

Von vornherein war dabei an die Verbindung mit wissenschaftlicher Forschung gedacht worden. Bereits seit 1934 war ein Arbeitskreis „Die bäuerliche Lebensgemeinschaft“ als Arbeitskreis VII/13 der Reichsarbeitsgemeinschaft „Agrarpolitik und Betriebslehre“ beim Forschungsdienst angesiedelt, der zur Reichsarbeitsgemeinschaft der Landbauwissenschaft gehörte. Gallionsfigur des Arbeitskreises war SS-Sturmbannführer Prof. Dr. Bruno K. Schultz [19] , der 1940 als Vorsitzender über die Tätigkeit dieses Arbeitskreises schreibt: „Er verfolgte bereits seit mehreren Jahren den Zweck, die Erforschung der bevölkerungsbiologischen und soziologischen Verhältnisse unseres Landvolkes ... zu vertiefen und ... einen Gesamtüberblick über den Erbanlagenbestand der ländlichen Lebensgemeinschaft herauszuarbeiten ... .“ Bereits 1938 hatte er als „Federführender“ des Arbeitskreises über 20 zum Teil begonnene und zum Teil abgeschlossene Untersuchungen berichtet. [20] Der eigentliche programmatische Kopf dieser Forschungen, Dr. habil. Heinz Wülker, war unmittelbar im Stabsamt des Reichsbauernführers beschäftigt, und Darré regte sogar persönlich an, bestimmte Dörfer (wie Moordorf in Ostfriesland [21] ) zu untersuchen. Das belegt, daß die Motive, warum man sich im RSA [22] und beim RN mit personengeschichtlichen Daten befaßt hat, ziemlich verschiedene gewesen sein müssen.

 

Bereits 1935, also im ersten Amtsjahr Mayers im RSA, waren die von verschiedenen Seiten ausgehenden Bestrebungen einer familienweisen Verkartung der Kirchenbücher so weit gediehen, daß das RSA dazu Stellung beziehen mußte. So antwortete man am 30.11.1935 auf eine Anfrage der Ev.-luth. Landeskirche Hannover zur familienweisen Verkartung. Man „hat auch nichts gegen die Anwendung des ausführlicheren Karteiverfahrens dann einzuwenden, wenn ... geeignete Kräfte (erfahrene Sippen- und Heimatforscher) zur Verfügung stehen“, ansonsten empfehle man nur die Verzettelung. [23]

Ab 1936 ging das RSA jedoch aus folgenden Gründen seinen eigenen methodischen Weg: Nach 1871 wohnte die jüdische Bevölkerung Preußens vor allem in den Städten und Großstädten. Der Nachweis der nicht-jüdischen Abstammung war aber in diesen Städten, die meist mehrere Kirchgemeinden umfaßten, deren Einwohnerzahl sehr groß und in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts stürmisch gewachsen war, sehr schwierig. Für Mayer war es deshalb das wichtigste Ziel, zuerst die größten Städte zu verzetteln, und das methodische Beispiel war Berlin. Bereits im November 1933 hatte sein Vorgänger Gercke mit der Verfilmung der Berliner Kirchenbücher begonnen. Unter Leitung des Pfarrers Karl Themel wurde eine Berliner Kirchenbuchstelle geschaffen, in der 1936 - mit den Fotokopien als Arbeitsgrundlage - die Verzettelung in großem Stile, d.h. mit bis zu 50 Mitarbeitern gleichzeitig, durchgeführt wurde. Bereits am 13.12.1936 konnte der „Völkische Beobachter“ melden: „Alle Judentaufen seit 1880 (muß richtig heißen: 1800) in der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin.  ... Bei der Anlage der Riesenkartei ging man mit größter Sorgfalt zu Werke. ... In einer besonderen Abteilung sind alle Judentaufen von 1800 bis 1936, die in Berlin stattfanden, zusammengetragen. Hier werden täglich drei, vier Fälle einer nichtarischen Abstammung aufgedeckt.“ Die Arbeitsanweisung lautete: „Für jede Judentaufe sind außer der gewöhnlichen Karteikarte 2 Doppel auszufüllen. Eins für die Reichsstelle für Sippenforschung und eins für die Fremdstämmigen-Kartei für die Berliner Zentralstelle.“ [24]

Für das RSA war das „System Themel“ [25] die Vorgehensweise, die man rasch in anderen großen Städten wie Breslau, Danzig, München, Hannover, Nürnberg und dann möglichst allen anderen auch anwenden wollte. Bei diesen vom RSA angeregten und gesteuerten „Verkartungen“ handelt es sich aber bei näherem Hinsehen nur um „Verzettelungen“. In den „Richtlinien für die Verkartung der Kirchenbücher“ [26] aus dem Jahre 1934 heißt es: „Die Verkartung der Kirchenbücher ist nur eine zweckmäßige Form der Anlegung alphabetischer Verzeichnisse der vorkommenden Namen“, also im Verständnis des RSA eine nur auf die Einzelperson, nicht aber auf die Familie zielende, Registerarbeit. Nach dem Verständnis aller anderen Verkarter war aber Verkartung die familienweise Zusammenstellung; Vorstufen wie bei Themel nannte man Verzettelung. Das RSA folgte aber zu keiner Zeit diesem Verständnis von „Kirchenbuchverkartung“, sondern blieb hartnäckig bei seiner Bezeichnung, mit der Folge, daß bis zum heutigen Tag in der Terminologie der Familienforscher in manchen Fällen unklar ist, was mit „Verkartung“ eigentlich gemeint ist, wenn nicht der Zusatz „familienweise Verkartung“ gebraucht wird. Noch immer wird von manchen, die nichts weiter machen, als Daten auf Zettel oder in den Computer zu übertragen, um damit alphabetische Register der Kirchenbücher herzustellen, dafür aus Unkenntnis die irreführende Terminologie des RSA weiterhin verwendet.

 

Seit Februar 1935 bestand auch im Hauptamt für Erzieher des Nationalsozialistischen Lehrerbundes eine Stelle für Familienkunde [27] , bei der es eher um Heimatforschung als um Judenverfolgung gegangen sein dürfte. Das RSA reagiert auf diese Aktivitäten von Dritten mit Unbehagen, so z.B. am 30.4.1936: „Neuerdings ist in die Arbeit der Verkartung eine gewisse Unsicherheit dadurch hereingetragen worden, daß sowohl Landesbauernschaften wie Untergliederungen der NS-Lehrerschaft an einzelne Landeskirchen (Konsistorien) und bischöfliche Ordinariate herangetreten sind, um die Kirchenbücher ... zu verkarten.“ [28] Immer wieder fragen Kirchen und andere Institutionen in Berlin an, ob man mit bestimmten Karteikartenvordrucken arbeiten soll oder kann, und das RSA müht sich vergeblich, das alles zu bremsen und zu kontrollieren: „Jeder meint, die Patentlösung gefunden zu haben, und jeder findet für seinen Vorschlag eine Druckerei, die glaubt, endlich einmal etwas in die Hand zu bekommen, was eine geradezu ungeheuerliche Absatz- und damit Verdienstmöglichkeit bietet.“ [29] „Ich möchte anregen, daß Sie diesen Fall benutzen, um vor derartigen Konjunkturerzeugnissen zu warnen.“ [30]

 

1936 waren die Vorarbeiten so weit gediehen, daß sich der RN für die familienweise Verkartung nach Demleitner-Roth [31] ausspricht, der NS-Lehrerbund für die Verzettelung und das Stammtafelverfahren nach Klenck [32] (bzw. Scheidt). Auf der sippenkundlichen Arbeitstagung des NS-Lehrerbundes in Harburg am 13.3.1937, zu der Mayer eingeladen ist, tritt er für die Methode Klenck ein. Um diese überraschende Empfehlung verstehen zu können, muß man sich etwas in Mayers Denkweise hineinversetzen: Im Grunde genommen hat er den Gedanken der Totalverkartung aller personenbezogenen Daten, den schon sein Amtsvorgänger Gercke hatte, insgeheim wieder aufgegriffen bzw. nie aufgegeben, aber in einzelne Schritte gegliedert. Überall sollen Kreissippenämter entstehen, in denen die Verzettelungen der Dörfer und kleinen Städte zusammengeführt werden. Die Methode Klenck, die eine Verzettelung vorsieht und auf die Fertigung von Ortsfamilienbüchern verzichtet, scheint deshalb für seine Zwecke am besten.

Inzwischen ist aber die Verkartung nach Demleitner-Roth schon in einigen Regionen, z.B. in Hannover [33] , in Gang gekommen, und als sich Mayer mit der Meinung von anderen erfahrenen Fachleuten konfrontiert sieht, relativiert er am 3.5.1937 seine in Harburg ausgesprochene Empfehlung: „Der Unterschied gegenüber dem Verfahren von Demleitner-Roth ist, obwohl Klenck weitgehend unter dem Einfluß von Scheidt steht, unwesentlich.“ [34] Daß Mayer bei solchen Urteilen das Für und Wider schließlich sorgfältig geprüft hat, zeigt sich daran, daß sich in den Akten des RSA eine 16-seitige, detaillierte Ausarbeitung mit dem Titel „Vergleich der volksgenealogischen Arbeitsweisen Klenck [35] und Demleitner-Roth“ [36] findet, ohne Verfasser und Herkunftsangabe, datiert vom 18.5.1937 und entstanden beim RN. (Wir müssen uns stets im klaren sein, daß wir nur die Aktenüberlieferung der einen Seite, des RSA kennen, die der anderen aber ziemlich vollständig vernichtet ist.)

Wir müssen uns hier auf einige, in unserem Zusammenhang wichtige Zitate aus dieser Ausarbeitung beschränken: „Es handelt sich ... bei Klenck gar nicht um ein besseres System der Verzettelung, sondern um ein anders geartetes, das jedoch ... in seinen Arbeitsgängen und in seiner praktischen Durchführbarkeit dem von Demleitner-Roth nicht gewachsen ist. ... Die Arbeitsweise Klenck und die Methode Demleitner-Roth sind grundsätzlich insofern einander gleich, als beide zwei Arbeitsgänge vorsehen. 1. Die eigentliche Verzettelung der Kirchenbücher. ... 2. Die Ordnung des Inhaltes der Eintragungen ... bei Klenck auf Stammtafeln, bei Demleitner-Roth auf den zum Familienbuch zusammenzufassenden Familienblättern. ... Klenck überträgt die einzelnen Eintragungen der Tauf-, Trau- und Sterberegister auf Karteikarten mit vorgedruckten Rubriken. ... Demleitner-Roth übertragen jede Eintragung des Trauungsregisters auf ein besonders vorgedrucktes Familienblatt. ... Die Eintragungen der Tauf- und Sterberegister werden ... auf Zettel ohne Vordruck übertragen ... . Wenn ihr Inhalt sinnvoll auf die Familienblätter übertragen ist, werden die Zettel nicht mehr benötigt. Sie sind nur ein vorübergehender Arbeitsbehelf. ... Da es Demleitner-Roth nicht wie Klenck darauf ankommt, einzelne Familien stammtafelförmig darzustellen, sondern den Inhalt einer Quelle vollständig (nicht mehr und nicht weniger) wiederzugeben, besteht keine Versuchung zu haltlosen Kombinationen. ... Bei Demleitner-Roth sind die Familienblätter nach ganz einfachen Grundsätzen (Namen und Zeit) geordnet, nicht wie bei Klenck nach umständlichen sippenkundlichen Zusammenhängen. ... Eben die Unmöglichkeit, auf einer Stammtafel mehr als die allerwichtigsten Angaben über eine Person unterzubringen ... ist der Grund dafür, daß die Fachgenealogie von der Stammtafel immer mehr zur Form der Stammliste übergegangen ist.“

Mit mehr als 60 Jahren zusätzlicher historischer Erfahrung läßt sich heute feststellen, daß nach der uneffektiven Arbeitsweise Klenck kein halbes Dutzend Arbeiten bis zur Drucklegung gebracht worden sind, nach der Arbeitsweise Demleitner-Roth und ihren späteren zweckmäßigen Verkürzungen, bei denen nach den Trauungen sofort die anderen Daten auf dem Familienblatt eingetragen werden, ohne zusätzliche Zettelwirtschaft, aber über tausend. Was Mayer offenbar an der Arbeitsweise Demleitner-Roth mißfiel, war, daß dabei keine Personenkartei entstand. Nur daran war er interessiert, und die Fertigung von Familienblättern schien ihm zu aufwendig, da für ihn das dahinterstehende Arbeitsziel, die Drucklegung von Ortsfamilienbüchern, kein Grund war, Kirchenbücher zu verkarten.

Nachdem klar war, daß sich mit dem RSA kein gemeinsames Vorgehen vereinbaren ließ, schließen RN, der NS-Lehrerbund und das Rassenpolitische Amt der NSDAP am 7.7.1937 das „Müdener Abkommen“ [37] und „bilden I. eine Arbeitsgemeinschaft für Sippenforschung und Sippenpflege mit dem Ziele einer sippenkundlichen Bestandsaufnahme des gesamten deutschen Volkes unter Ausschöpfung sämtlicher sippenkundlicher Quellen ... . II. Die geplante Arbeit, die von den deutschen Bauern und der deutschen Erzieherschaft gemeinsam durchgeführt wird, beginnt mit einer vollständigen Auswertung der Kirchenbücher. III. Endergebnis aller Arbeiten ist das vom Reichsnährstand geforderte Dorfsippenbuch (Familienbuch nach dem Familienblattverfahren des Reichsnährstandes) und die vom NSLB. verlangten Stammtafeln (Verfahren Klenck).“

Fortsetzung Teil 2


[1] Ackermann, Josef: Heinrich Himmler als Ideologe. Göttingen: Musterschmidt 1970.

[2] Darré, R. Walther: Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse. München: J. F. Lehmanns Verlag 1929.

[3] Ribbe, Wolfgang: Genealogie und Zeitgeschichte. Studien zur Institutionalisierung der nationalsozialistischen Arierpolitik.  Herold-Jahrbuch, N.F. (1998) 73-108.

[4] Befragungsunterlagen sind noch heute im Bundesarchiv erhalten.

[5] Der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an die Herren Regierungspräsidenten, 1.8.1933, BArch, R 39, Nr. 318.

[6] Vgl. Aly, Götz und Karl Heinz Roth: Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Berlin: Rothbuch 1984 (= Rothbuch 282).

[7] Gercke, Achim: Die Aufgaben des Sachverständigen für Rasseforschung beim Reichsministerium des Innern. Leipzig 1933 (Flugschriften für Familienforschung 23).

[8] Hohlfeld, Johannes: Deutsche Volksgenealogie. Familiengeschichtliche Blätter 31 (1933) 242-255.

[9] Zitiert nach Bl. 12 von: Hohlfeld, Johannes: Denkschrift über die Gründung des Reichsvereins für Sippenforschung und Wappenkunde (e.V.) (von den Vorständen des Vereins Herold-Berlin und der Zentralstelle=Leipzig dem Reichsministerium des Innern überreicht). Streng vertraulich zur Kenntnisnahme übersandt. Leipzig 1934. 14 Blatt. - Offensichtlich hat Hohlfeld nach 1945 eine Kopie dieser Denkschrift der Deutschen Bücherei (Signatur 1948 B 584) in Leipzig übergeben, denn sie befindet sich dort, wie auch manche andere  ungedruckte Schrift Hohlfelds.

[10]   Ebd. Bl. 12-13.

[11] Ribbe (wie Anm. 3), S. 87-88.

[12] BArch, R 39, Nr. 94.  - Fast alle Akten des Bestandes R 39 sind unpaginiert und relativ wenig erschlossen, d.h. zeitlich zum Teil ungeordnet und inhaltlich eng zusammengehörende Schriftstücke häufig auf verschiedene Nummern  verteilt.

[13] Im Juli 1935 darüber hinaus Amtsleiter im Stabe des Stellvertreters des Führers, Hauptabteilungschef im Rasse- und Siedlungs-Hauptamt der SS, zugleich Vorsitzender des genealogischen Vereins „Der Herold“ zu Berlin.

[14]   BArch, R 39, Nr. 811b.

[15] Mayer, Kurt: Genealogisch-heraldische Untersuchungen zur Geschichte des alten Königreichs Burgund. Speyier 1930 (zugleich Phil. Diss., München).

[16] Bramwell, A.: Blood and Soil. Walther Darré and Hitler’s Green Party. Kensal Press 1985.

[17] Corni, Gustavo und Horst Gies: ‘Blut und Boden’, Rassenideologie und Agrarpolitik im Staate Hitlers. Idstein: Schulz-Kirchner-Verlag 1994 (= Historisches Seminar, NF 5).

[18] Die Ahnen deutscher Bauernführer, Band 16: Horst Rechenbach. Berlin: RN Verlags-Gesellschaft 1936. - Diese gedruckte Ahnenliste enthält auf S. 10-11 eine kurze, vermutlich von Rechenbach selbst verfaßte Biographie. Am Ende des 1. Weltkriegs war Rechenbach Oberleutnant bei einem Pionierbataillon, danach ab 1919 Landwirt und Tierzuchtinspektor, dann bei der Reichswehr. „Im Dezember 1931 fordert Reichsführer SS Himmler ihn auf, zur Reichsführung nach München zu kommen, um das Rasse- und Siedlungsamt als stellvertretender Chef aufzubauen.“ 1933 siedelt  er mit diesem Amt - und offensichtlich gemeinsam mit Mayer, dessen Stellvertreter er zu dieser Zeit ist -  nach Berlin über. „Nach der Umorganisation des Rasse- und Siedlungsamtes im Jahre 1934 wird er als SS-Standartenführer Chef der Hauptabteilung Rasse im Rassenamt. Im Jahre 1933 beruft Reichsbauernführer Darré ihn als Hauptabteilungsleiter in sein Stabsamt.“

[19] Zu der herausragenden Rolle, die Schultz in der Hierarchie der Rasseforscher gespielt hat, vgl.: Massin, Benoît: Anthropologie und Humangenetik im Nationalsozialismus oder: Wie schreiben deutsche Wissenschaftler ihre eigene Wissenschaftsgeschichte. In: Kaupen-Haas, Heidrun und Christian Saller (Hrsg.): Wissenschaftlicher Rassismus: Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften. Frankfurt/M.: Campus 1999, S. 12-64.

[20] Ein umfassender Überblick über diesen Arbeitskreis und seine wissenschaftlichen Forschungen ist enthalten in: Weiss, Volkmar und Katja Münchow: Ortsfamilienbücher mit Standort Leipzig in Deutscher Bücherei und Deutscher Zentralstelle für Genealogie. 2. Auflage. Neustadt/Aisch: Degener 1998, S. 97-104 (= Genealogische Informationen 33).

[21] Rechenbach, Horst: Moordorf. Ein Beitrag zur Siedlungsgeschichte und zur sozialen Frage. Berlin: RN-Verlags-Gesellschaft 1940. - Vgl. aber damit: Wojak, Andreas: Moordorf. Dichtungen und Wahrheit über ein ungewöhnliches Dorf in Ostfriesland. Bremen: Edition Temmen 1992.

[22] Seidler, Horst und Andreas Rett: Das RSA entscheidet. Rassenbiologie im Nationalsozialismus. München: Jugend und Volk 1982.

[23] BArch, R 39, Nr. 575.

[24] Zitiert nach: Gailus, Manfred: Beihilfe zur Ausgrenzung. Die „Kirchenbuchstelle Alt-Berlin“ in den Jahren 1936 bis 1945. Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1993) 255-280, hier S. 264-265.

[25] Themel, Karl: Wie verkarte ich Kirchenbücher: Der Aufbau einer alphabetischen Kirchenbuchkartei. Berlin: Verlag für Standesamtswesen 1936. 

[26] BArch, R 39, Nr. 576.

[27] Leider sind von dieser Stelle keine Archivalien überliefert.

[28] Kayser, Gerhard, Referent für Kirchenbuchfragen der Reichssippenstelle; BArch, R 39, Nr. 575.

[29] Kayser am 3.11.1936 mit Bezug auf: Henschel, Horst und Friedrich Köhler: Die Verkartung der Kirchenbücher auf die Deutschen Sippenkarteiblätter. Annaberg: Erzgebirgsverlag Graser’sche Buchhandlung 1936; BArch, R 39, Nr. 575.

[30] Kayser am 12.6.1936 mit Bezug auf vom Verlag Albert Mewes Nachf., Rügenwalde, vorgelegte Formulare; BArch, R 39, Nr. 575.

[31] Demleitner, Josef  und Adolf Roth: Der Weg zur Volksgenealogie. Anleitung zur übersichtlichen Darstellung des sippenkundlichen Inhalts der Kirchenbücher in Familienbüchern. München: R. Oldenbourg 1935; 3., verbesserte und vermehrte Auflage, 15. bis 21. Tausend, 1937.

[32] Klenck, Willy: Bevölkerungsgenealogie. Aufgaben der Familienkunde im Dritten Reich. Leipzig: Degener 1934 (= Praktikum für Familienforscher 27).

[33] Verkartung der Kirchenbücher, insbesondere Grundsätze für eine Beteiligung des Reichsnährstandes an der Verkartung der Kirchenbücher. Kirchliches Amtsblatt für die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannover 23 (1936) 127-128. - Grundlage soll das Verfahren nach Demleitner-Roth sein. Auf S. 128 heißt es ausdrücklich: „In Frage kommt nicht das in erster Linie erbbiologische Gesichtspunkte berücksichtigende Verfahren von Professor Scheidt, Hamburg.“

[34] BArch, R 39, Nr. 580.

[35] Klenck, Willy: Hin zur Volksgenealogie! Reichszeitung der deutschen Erzieher, H. 1 (1937) 42-46.

[36] BArch, R 39, Nr. 579b.

[37] Die Tagung fand vom 6.-9.7.1937 in Müden, Krs. Celle statt.


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