Genealogie 50. Jg. (2001) Teil I: Das sogenannte Blutsbekenntnis, 417-436
  Teil II: Historische oder völkische Genealogie? 497-507
  Teil III: Die Machtergreifung der Viehzüchter, 615-627

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Vorgeschichte und Folgen des arischen Ahnenpasses: Zur Geschichte der Genealogie im 20. Jahrhundert. Arnshaugk 2013, 374 Seiten

Die folgenden Texte sind in diesem Buch in überarbeiteter und aktualisierter Form enthalten auf den Seiten 12 bis 90.


Die Vorgeschichte des arischen Ahnenpasses

Teil III:

Die Machtergreifung der Viehzüchter

Volkmar W e i s s

 

Für Bernhard Koerner und seine geistigen Parteigänger - siehe Teil I -  trat mit dem Jahre 1933 zum erstenmal ein Staat in die Geschichte, der mit der Nietzscheschen Forderung „Nicht fort sollt ihr Euch pflanzen, sondern hinauf“ blutigen Ernst zu machen begann, denn mit Darré und Himmler waren zwei Viehzüchter an die Schaltstellen der Macht gelangt. Im Vorwort des 80. Bands des „Deutschen Geschlechterbuches“ im Jahre 1933 kann Koerner rückblickend triumphieren: „Auf der 81. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Salzburg hielt 1909 der Arzt Dr. med. Paul Franze aus Bad Nauheim einen Vortrag über ‘Höherzüchtung des Menschen auf biologischer Grundlage’, erweitert und umgearbeitet 1910 in Leipzig im Druck erschien. Mit dieser Schrift, die ihrer Zeit nicht die gebührende Beachtung fand, sollten sich die heutigen Sippenforscher und Sippenpfleger etwas eingehender beschäftigen. ... Die Auslese wird einen völkischen, höhergearteten Staat entstehen lassen, wenn sie sich abwendet von dem Herden-Wahne der Massen der letzten Vergangenheit und sich zuwendet dem Führer-Gedanken.“

Etwa um 1920 waren die Fachleute der Erbgesundheitslehre, die man heute Humangenetiker nennt, zu der ernüchternden Einsicht gelangt, daß die Untersuchung der Vererbung von vielen geistigen und körperlichen Eigenschaften doch viel komplizierter ist, als man in der ersten naiven Begeisterung nach 1900 gehofft hatte. Das Interesse an diesen Fragen war aber ungebrochen. Es dürfte in den Zwanziger Jahren kaum einen genealogischen Verein in Deutschland gegeben haben, der nicht irgendwann einmal diese Thematik an einem seiner Vortragsabende [123] auf die Tagesordnung gesetzt hätte. Als typisch für die oft sehr sachliche und sachkundige Behandlung des Themas sei der Vortrag von Dr. Alfred Bosler über „Rassenhygiene und Familienforschung“, gehalten am 25.5.1925 im „Verein für Württembergische Familienkunde“ [124] , angeführt. Als ein typisches Beispiel für ein unverkrampftes Bemühen, die Genealogie und das dahinterstehende theoretische Wissen um Vererbung in einen größeren Sinnzusammenhang einzuordnen, kann der Beitrag „Pflege der Ahnen- und Familienforschung für die Zukunft des deutschen Volkes“ von Martha Martius [125] genannt werden.

 

Bereits bei der Erforschung der Erbgänge der Merkmale des äußeren Erscheinungsbildes, ja auch schon bei der Haar- und Augenfarbe, aber erst recht des „Typus“ und der „Rasse“, stießen um 1920 die Untersuchungsmethoden der Anthropologen und insbesondere das zur Untersuchung geeignete Bildmaterial an ihre Grenzen. Fotos gab es es erst seit wenigen Jahrzehnten, zuverlässige, für statistische Auswertungen geeignete Aufzeichnungen noch weniger oder gar nicht. Es lag deshalb der Gedanke nahe, derartige, für eine statistische Erbganganalyse geeignete Fotos, Materialien und Aufzeichnungen dann wenigstens für die Gegenwart und Zukunft zu sammeln und die Genealogen für eine solche Sammeltätigkeit anzuleiten und zu begeistern. Bei einigen Genealogen lief man mit derartigen Vorschlägen und Anregungen offene Türen ein. 1919 schrieb Dr. Walter Pfeilsticker (Stuttgart): „Würde aber in der Gegenwart mit der Anlage einer Ahnengallerie, z.B. bei den beiden Großelternpaaren begonnen und fortlaufend die Nachfahren im Bilde festgehalten, dann bin ich überzeugt, daß in Verbindung mit Aufzeichnungen über Größe, Haar- und Augenfarbe, Besonderheiten in Haltung, Gang und Gebärden, über Schädelform (Schädelmessungen!), Zahnstellung usw. wertvolle Beiträge zur Klärung von Vererbungsfragen damit geliefert werden können. Hierbei erscheinen mir Stiftungen etwa bei der Zentralstelle in Leipzig sehr geeignet zu sein.“ [126] Im Nachwort zu diesem Beitrag erklärte die Schriftleitung: „Die Zentralstelle wird sich gern bereit finden lassen, auch für Bildnisanhänge, die sich an Stamm- und Ahnentafeln anschließen sollen, zu sorgen. ... Wir hoffen demnach, daß Dr. Pfeilstickers Anregungen lebhaften Widerhall finden werden.“ Das wichtigste Anleitungsbuch, in dem diese Bestrebungen ihren Ausdruck fanden, folgte, ist - mit einem Geleitwort von Ludwig Finckh - das Buch des jungen Dr. Walter Scheidt (1895-1976), damals Assistent am Anthropologischen Institut der Universität München, mit dem Titel „Einführung in die naturwissenschaftliche Familienkunde (Familienanthropologie). Mit 7 Fragebogen zum Eintragen von Beobachtungen,“, erschienen 1923 bei J. F. Lehmanns Verlag in München. Das 8. Kapitel des Buches handelt von der „Unmittelbaren anthropologischen Beobachtung der einzelnen Familienmitglieder“. 1924 erschien dann beim selben Verlag von Scheidt noch ein „Familienbuch. Anleitung und Vordrucke zur Herstellung einer Familiengeschichte“. - Auch in der Rechtsmedizin fanden die humangenetischen Ergebnisse in dieser Zeit Eingang: 1926 wurde in Wien das erste anthropologische Ähnlichkeitsgutachten ausgestellt, mit dem über die Vaterschaft eines Kind in strittigen Fällen entschieden werden sollte. Der Wiener Oberste Gerichtshof verfügte am 23.4.1931, daß das Fehlen einer solchen erbbiologischen Untersuchung ein Verfahrensmangel sei. [127]

Wie sehr derartige Überlegungen um 1924 zum Zeitgeist gehörten, belegt auch ein Beitrag von Alexander Elster, in dem wir lesen [128] : „Es ist es ja viel leichter, Viehzucht zu treiben als Menschenzucht und deshalb sind wir in der Viehzucht viel weiter. ... Die Ziele und Aufgaben des menschlichen Individuums sind eben ganz andere und weit vielgestaltigere in der sozialwirtschaftlichen Umwelt als bei der Züchtung von Renn- und Arbeitspferden. ... Eine genaue Kenntnis der Familiengeschichte, der Eigenschaften, Fähigkeiten und Absonderlichkeiten der Vorfahren würde das Urteil nicht nur im Einzelfall, sondern zugleich den Einblick in die menschliche Vererbungslehre überhaupt, und damit in ihre praktisch-soziale Anwendung, aufhellen in einer nie für möglich erachteten Ausdehnung! Das Ideal wäre ein Personalregister des Volkes - das heißt eine amtlich wie das Handelsregister zu führende Liste sämtlicher Einwohner, die nicht nur wie jetzt den äußerlichen ‘Personenstand’, sondern ihren Lebensgang, ihren Gesundheitszustand mit Nennung aller Erkrankungen, ihre Eigenheiten und besonderen Merkmale ... genau aufzeichnete. Dies für einige Generationen durchgeführt ... würde uns mit einem Schlage rassehygienisch vorwärts bringen. ... Die Produktivität würde ... sich in nie geahntem Maße steigern lassen. ... Da es ein solches Personalregister nicht gibt, ... so bilden die familienkundlichen Aufzeichnungen den einzigen Ersatz und zugleich eine Vorstufe dafür.“

 

Anhänger der Jugendbewegung kehrten aus dem I. Weltkrieg als Geschlagene zurück und antworteten mit einer noch intensiveren Wendung hin zu dem, was sie als die Werte des deutschen Volkstums ansahen. Auch die Jugendbewegung der zweiten Welle nach dem Kriege entstammte zwar der Großstadt, sah aber die Ziele ihres Gestaltens grundsätzlich außerhalb der Stadt. Das deutsche Land wurde erwandert, und als Zentren der Bewegung entstanden ‘Jugendburgen’. Der erste der Jugendbünde, der das Leben und die Arbeit auf dem Lande zu seinem eigentlichen Ziel erhob, waren die „Artamanen“ [129] , die Mitte der Zwanziger Jahre von August Georg Kenstler, einem in Hermannstadt geborenen Siebenbürger, Bruno Tanzmann [130] (geb. 1878)  und anderen [131] gegründet worden waren. Kenstler gab mehrere Jahre eine kleine und in der großen Öffentlichkeit unbeachtete Zeitschrift mit dem Titel „Blut und Boden. Monatsschrift für wurzelhaftes Bauerntum, für deutsche Wesensart und die nationale Freiheit.“ heraus. Aus dem unbedeutenden Anfang sollte eine geistige Bewegung von großer Tragweite erwachsen. [132] Als der Ausbruch der großen Wirtschaftskrise 1929 zuerst Hundertausende, dann Millionen von Arbeitskräften aus jedem Produktionsprozeß ausschloß, war die Idee der freiwilligen, in größeren Gemeinschaften und von bestimmten Lagern aus zu leistenden Arbeit am Boden bereits vorhanden. Die Verwirklichung in größerem Rahmen verlangte notfalls nicht mehr als einen Spaten für einen Mann. Im Sommer des Jahres 1932 waren auf dieser Weise 70 000 Männer im Freiwilligen Arbeitsdienst tätig. Zurückdrängung der polnischen Erntearbeiter im Osten und geistige Aufrüstung waren zu diesem Zeitpunkt das erklärte Ziel der Artamanen und verwandter Organisationen. Hans Holfelder, einer der Führer der Artamanen, erhob die Forderung [133] Wir brauchen einen neuen Adel!“ Aus dieser Forderung nach einer neuen landverbundenen Führungsschicht, dem Beispiel der spartanischen Erbgüter (der „Klaroi“) und europäischen Beispielen der Zwanziger Jahre [134] entwickelte R. Walther Darré in seinem Buch „Neuadel aus Blut und Boden“ die Idee der „Hegehöfe“, die als eine direkte geistige Vorleistung zu seiner späteren Erbhofgesetzgebung anzusehen sind.

„Hiermit erkläre ich meinen Beitritt zur Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte und abonniere auf die Familiengeschichtlichen Blätter“, Richard Walther Darré, cand. agr., Halle 29.4.1924, so lautet sein Anmeldeformular [135] . Wie aus dem Schriftwechsel mit der Zentralstelle zu ersehen ist, war Darré in der Genealogie um diese Zeit ein Anfänger, der sich um seine eigene Familiengeschichte bemühte. Er steckte als Landwirtschaftstudent und danach auch als Berufsanfänger mit mehrfach wechselnden Adressen und Anstellungen in großen Geldschwierigkeiten, weswegen er mehrfach um Stundung oder Teilzahlung seiner Beiträge bitten mußte. Nachweisbar ist aber, daß er den Jahrgang 1926 der „Familiengeschichtlichen Blätter“ bezogen hat, also den Band, in dem der Steiermärker Brandner über seine „Volksgenealogie“ berichtet hat. [136]

Großen Einfluß auf den jungen Darrè hatte in Halle der Tierzüchter Prof. Dr. Gustav Frölich (1879-1940), den Darré 1939 zu seinem 60. Geburtstag [137] bescheinigte: „Alle, die einmal zu den Schülern Prof. Frölichs gezählt haben, sind stolz auf die Anregungen, die sie im Tierzucht-Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg erhalten haben. ... Darüber hinaus erzog Prof. Frölich seine Schüler zu völkischem und nationalwirtschaftlichem Denken.“ Das Bild wird abgerundet, wenn man in „Wer ist’s“, Degener 1922, liest, daß Frölich ein Liebhaber der „Familienforschung“ war (ohne daß dazu in der Leipziger Zentralstelle Arbeiten von ihm vorliegen). Entscheidend für Darrès „Richtung seines Interesses war die Lehre Houston Stewart Chamberlains geworden, in die er sich zunächst mehr aus Zufall während seiner hallenser Studien hineingearbeitet hatte. Er hatte zudem das Glück, als Lehrer für Vererbungsbiologie den berühmten Schüler Weißmanns, Professor Valentin Häcker, für tierzüchterische Vererbungslehre Professor Frölich und für pflanzenzüchterische Vererbungslehre Professor Roemer zu hören. Dies war insoweit besonders wichtig, weil Halle, welches das wissenschaftliche Zentrum der Mendel-Darwinistischen Auffassung war, keine Lamarckistischen Einflüsse (Milieulehre) zur Geltung brachte und deshalb eine völlig geschlossene Lehrmeinung vermittelte.“, brachte Darrés Biograph zu Papier. [138]

Einen besonderen Eindruck auf Darré machte Frölichs „Lehrbuch der Pferdezucht“ [139] . In ihm lesen wir, daß in England Stammbäume von Rennpferden bereits seit 1727 geführt werden. Auf S. 455 des Lehrbuchs ist ein Stutbuch-Formular des Gestüts Trakehnen wiedergegeben, und es wird auf S. 431 auf ein „Übungsheft für die Anfertigung von Ahnentafeln“ der Deutschen Gesellschaft für Züchtungskunde aus dem Jahre 1924 verwiesen. „Unerläßlich ist hier die Zuchtbuchführung und die Nachkommenbeurteilung. Die Ahnentafel ist nur dann von Wert, wenn die betreffenden Individuen einzeln bekannt sind“, lehrt Frölich (auf S. 447) den Züchtern. Vergleicht man nun die Stutbuch-Formulare mit ihrer Forderung nach genauer bildlicher Erfassung, Messung und normierter Beschreibung schon des rein äußerlichen Erscheinungbildes eines Tieres und seiner Rasse, ebenso aber für die von ihm abstammenden Tiere und nach Möglichkeit auch für seine Ahnen und nimmt das fast zur selben Zeit erschienene „Familienbuch“ von Scheidt für die anthropologische Familienforschung zur Hand, so muß sich die Analogie der Verfahren und der theoretischen Begründung für denjenigen aufdrängen, der zuallererst von der Analogie beeindruckt ist und nicht von der unterschiedlichen Problemlage bei Mensch und Tier. Darré war, als er sich 1924 bei der Leipziger Zentralstelle anmeldete, offensichtlich dabei, in den Bann der Analogie zu geraten, im selben Jahr aber auch Heinrich Himmler.

Heinrich Himmler hatte einen ähnlichen Bildungshintergrund wie Darré und hatte 1922 an der an der Technischen Hochschule in München seine Prüfung als Diplom-Landwirt mit einem Notendurchschnitt von 1,7 abgelegt hatte. Von Himmler ist im Bundesarchiv die Liste der Bücher überliefert, die er als junger Mann gelesen hat. Nr. 216 dieser Leseliste, gelesen am 17.9.1924, ist eine Propagandaschrift [140] mit den „12 Lebensregeln des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes“. Die 1. Regel lautete: „Deutscher, ... bekämpfe jede Heirat mit fremdem Geblüt in Deiner Familie. ... Das Hakenkreuz ist das Wahrzeichen der Rasse.“ Dazu notierte sich Himmler: „Ein herrliches Heft. Es ist eine Pionierarbeit. Besonders der Teil, wie es möglich ist, die Rasse wieder zu verbessern, ist von herrlicher, sittlicher Höhe.“ [141]   Zur selben Zeit hat Himmlers (als Nr. 212 seiner Leseliste) auch das mehrbändige Lehrbuch der „Allgemeinen Tierzucht“ von Kronacher [142] in den Händen. In der 2. Abteilung (von 1916) dieses Lehrbuchs konnte Himmler auf S. 48 lesen: „Die genealogische Methode befaßt sich mit der Feststellung der Aszendenz einer Familie bzw. der Wiederkehr bestimmter Merkmale und Eigenschaften in der Generationenfolge nach rückwärts. Zunächst für die Erblichkeitsforschung beim Menschen bestimmt, vermag sie besonders dort, wo die Herdbücher an Hand genauer, zahlenmäßiger Aufzeichnungen und guter brauchbarer Photographien hinreichend Aufklärung über Körperbildung und Leistungen der Vorfahrenindividuen zu geben vermögen, auch in der Tierzucht in Gestalt der Stammbaumforschung sehr wertvolle, auch praktisch verwertbare Aufschlüsse zu bringen.“ Die Kapitel-Überschriften der 4. Abteilung (von 1918) dieses Lehrbuches lauten: „Bedeutung und Prüfung der Rassenreinheit, Herdbuchführung, Ahnentafel und Stammbaumforschung, Beurteilung nach den Leistungen, Beurteilung nach der äußeren Erscheinung.“ (Es sei hier schon vorweggenommen, daß wir dieses Vokabular dann wenige Jahre später im Heiratserlaß der SS und in Himmlers politischen Reden wiederfinden.) In der 3. Abteilung (von 1917) dieses Lehrbuchs fand dann Himmler auf S. 114 auch die Bestätigung, daß „die einzelnen Rassen mehr oder minder starke Unterschiede der geistigen Fähigkeiten bei den ihnen zugehörigen Individuen“ aufweisen. Eine Einsicht, die für Tierrassen nicht neu war und der ja auch die Alltagsbeobachtung, etwa bei Hunderassen, entspricht.

Darré arbeitete dann nach seinem Diplom 1926/27 tatsächlich bei dem „Ostpreußischen Stutbuch für Warmblut Trakehner Abstammung“ in Insterburg. In  wenigen Jahren, etwa von 1924 bis 1931, vollzog sich nun in und bei Darré wie in einem Brennglas eine Synthese der verschiedenen geistigen Ströme und Einflüsse, auf die wir in unserer Arbeit bisher schon eingegangen sind. Darré hatte Schwierigkeiten, eine berufliche Daueranstellung zu finden. 1928 wartete er fast ein Jahr lang im Elternhaus und verdichtete die auf ihn wirkenden Einflüsse und seine eigenen Überlegungen seinem Buch „Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse“, das - wie könnte es anders sein - 1929 bei J. F. Lehmanns Verlag in München erscheint. Unter der Überschrift „Bauerntum und Dauerehe als biologische Grundlage der Nordischen Rasse“ lesen wir in diesem Buch (auf S. 364ff.): „Im Jahre 1793 tat man in England einen bedeutsamen Schritt und entschloß sich, nur noch mit den erprobten Pferdestämmen weiterzuzüchten, d.h. fremdes Blut grundsätzlich fernzuhalten. Sämtliche Pferde wurden in das ‘General Stud-Book’ eingetragen, welches übrigens das älteste Zuchtstammbuch der Welt ist. ... Seit der Gründung des ‘General Stud-Book’ ist kein fremdes Blut mehr in die englische Vollblutzucht hineingelangt, aber rücksichtslos fliegt alles hinaus, was nicht die harte Konstitutionsprüfung der Rennbahn durchhält oder Körperfehler aufweist. ... Die erreicht Höhe der Leistung ist einzigartig. ... Aus einer durchaus nicht einheitlichen Menge von Pferden schälen sich bei Anwendung rücksichtsloser Leistungsprüfungen einige bestimmte leistungsfähige Familien heraus, bilden mit der Zeit einen echten Adel unter den Pferden und können nunmehr auf ihrer Leistungshöhe nur erhalten werden durch rücksichtslose Reinhaltung ihrer Erbmasse, d.h. ihres Blutes. ... Verfasser (Darré also) glaubt nun, daß wir mit dieser Erkenntnis über die Entstehungsursachen einer auf Leistung aufgebauten Hochzucht auch den Schlüsse in den Händen halten, um die Eheprobleme der Nordischen Rasse biologisch zu erschließen. ... Wenn der nordische Hof ungeteilt in Dauerehe einem Erben übergeben worden ist und dieser Erbe das Ergebnis einer natürlichen oder bewußten Auswahl unter den Geschwistern war, so haben wir bereits sämtliche Faktoren in der Hand, um bei der Nordischen Rasse den Schritt von der Reinzucht zur Hochzucht verständlich zu machen.“ Ähnliche Gedanken wie Darré hatte Holle [143] bereits 1919 geäußert: „Was der einzelne Mensch für sein Volk geistig wert ist, kann keine Begabungsprüfung feststellen, das zeigt sich erst auf der Höhe des Lebens durch die Bewährung. ... Bildung von Verbänden solcher Familien, die vorzugsweise nur ineinander heiraten, könnten eine gewisse Zuchtwahl bedeuten und zur Entstehung eines wirklichen Geburtsadels führen.“    

1929 wurde Darré von dem Architekten Paul Schultze-Naumburg (1869-1949) [144] in dessen Haus auf Burg Saaleck aufgenommen, auf welche Weise Darré dort sein zweites programmatisches Buch „Neuadel aus Blut und Boden“ schreiben konnte. Mit seinen beiden Büchern und weiteren Aufsätzen wurde Darré weithin bekannt [145] . Konservativ ist etwas anderes als völkisch, und völkisch nicht gleich nationalsozialistisch, aber wenn man die Vorgeschichte des arischen Ahnenpasses von 1933 untersucht, so würde es ausreichen, allen Einflüssen nachzugehen, die auf Darré gewirkt haben, und dann wieder den Ursprüngen dieser Einflüsse, um zu einem richtigen Bild zu gelangen.

Schon einige Jahre vor dem Erscheines des Buches „Neuadel aus Blut und Boden“ hatte Darré, zusammen mit seinem späteren Mitarbeiter Dr. Horst Rechenbach [146] , einen Verein zur Bildung eines adligen deutschen Bauerntums gegründet, der gescheitert war. [147] Gab es bereits früher Anregungen (so bei Willibald Hentschel), Ansätze und unter den Siedlungsbestrebungen auch solche, in denen die praktische Menschenzucht erprobt werden sollte, so werden solche Zuchtsekten am Ausgang der Zwanziger Jahre häufiger. [148] Der Deutsche Orden hatte z.B. 1921 bereits rund 600 Glieder in 33 Gilden. Während der Prüfungszeit war von einem Ordensfreunde, der sich um Aufnahme bewarb, eine Ahnentafel über die vier Großeltern beizubringen. Diese Ahnentafel war vor der Einreihung in die Deutschherrenschaft mindestens auf die acht Urgroßeltern zu ergänzen und für den Sippenschrein des Ordens einzureichen, der auch die Bildnisse der Ordensglieder enthielt. Der Deutsche Orden lehnte jede Gemeinschaft ab, die ein allgemeines Menschentum als ertrebenswertes Ziel über das völkische Deutschtum stellte. 1928 wurde die „Nordische Vermittlungsstelle“ ins Leben gerufen. Sie veröffentlichte in den Zeitschriften „Rasse und Volk“,. in „Deutschlands Erneuerung“ und in der „Sonne“ folgendes Inserat. „Nordische Menschen denen Gelegenheit fehlt, ebenbürtige, erbtüchtige Ehepartner zu finden .... wenden sich um kostenlose Auskunft an die Nordische Vermittlungsstelle.“ Hinter dem Unternehmen stand Hanno Konopacki-Konopath, Schriftleiter der „Sonne“ und Leiter des „Nordischen Ringes“ (später von Goebbels zum Leiter der Kunstabteilung des Gaues Groß-Berlin bestimmt). In Gemeinschaft mit dem „Werkbund für deutsches Volkstum und Rassenforschung“ und dem „Jungnordischen Bund“ veranstaltete er 1928 ein großes Preisausschreiben für nordische Ahnentafeln. Ein „Germanisches Eheamt“ vermittelte deutschen Mädchen das Kennenlernen wertvoller Jünglinge. Zu den Sippenverbänden im völkischen Sinne gehörte auch der im Anschluß an den Deutschen Orden gebildete Verband der Sippe Hunkel. 1927 wurde bei Dresden von dem Artamanenführer Kenstler und anderen der „Bund Kinderland“ gegründet, der Heimstätten für Kinder „nordischer Rasse“ schaffen wollte. Ähnliche Ziele verfolgte seit 1919 die „Deutsche Schwesternschaft“ (in einer Art Vorwegnahme des späteren „Lebensborn e.V.“ von Heinrich Himmler).

Auch der alte Adel wurdel von dieser geistigen Bewegung erfaßt, und Wilhelm Karl Prinz von Isenburg (1903-1956), später Professor für Sippenforschung in München, rief zur „Reinerhaltung adliger Erblinien“ auf.  Es solle sich daher jeder Adlige in das „Eiserne Buch deutschen Adels deutscher Art“ eintragen lasse „Die Sammlung des Adels in der Edda ist das einzige Mittel, ... in den Adel bereits eingedrungene Tropfen für uns Deutsche rassisch-unverträglichen Blutes zu resorbieren oder an der Ausbreitung im Adel zu hindern.“ Seit 1918 forderte die Deutsche Adelsgenossenschaft von ihren Mitgliedern den arischen Abstammungsnachweis.

Auch unter den Juristen gab es schon seit den 1890er Jahren Vordenker der Gesetzgebung von 1933. „Eine Fundgrube geradezu sind z.B. folgende Zeitschriften: ‘Deutsche Welt’, 1898-1917; ‘Deutscher Volkswart’, 1913-1927; ‘Politisch-Anthropologische Revue’, 1902-1919; ‘Deutschlands Erneuerung’, 1917. ... In allen den genannten Zeitschriften finden sich eine große Zahl von Abhandlungen, die uns zeigen, wie nach und der Stoff zusammengetragen worden ist, der schließlich zur Ausbildung der Rechtsanschauung des Nationalsozialismus geführt hat. ... Es ist das Verdienst des 1931 verstorbenen Landsgerichtsdirektors Dr. Karl Förster durch seinen im Jahre 1921 gegründeten Ahnenlistenaustausch (jetzt Deutsche Ahnengemeinschaft) den genealogischen Nachweis der gewaltigen Blutsverwandtschaft der jetzt lebenden Angehörigen des deutschen Volkes erbracht zu haben.“ [149]

1919 hatte A. Gobard in dem vom Bunde Deutschvölkischer Juristen herausgegebenen „Mitteilungen für deutsches Recht und Rechtsleben“ eine Abhandlung über „Beiträge zum Sippenrecht“ veröffentlicht, in der die Nürnberger Gesetze und das Erbhofgesetz praktisch vorweggenommen werden. Am Vorabend der Machtergreifung veröffentlichte der Major a. D. Viktor Hülsen [150] (Mitglied in Koerners Verein) eine Schrift mit dem Titel „Genealogie und Politik im Rahmen deutscher Staatspolitik. Von dem Wirken eines erbbiologischen Staatsgesetzes. Die grundlegende Schrift des Volksbundes für deutsche Familie.“ Leipzig: A. Klein 1932. [151] Was er fordert, z.B. „Ahnenkenntnis als allgemeines Kulturgut in Auswirkung eines Staatsgesetzes“ wird schon wenige Monate später Wirklichkeit , wenn auch die Forderung (auf S. 15): „Wer seine Vorfahren nachweist, genießt Steuervorteil. Dieser Steuervorteil ist gestaffelt nach dem Maße der nachgewiesenen Kenntnis der Vorfahren. Mit dem Nachweise ist zu verbinden eine Bekundung über die Merkmale der eigenen Person und der Verwandten ersten Grades“, in dieser Weise überzogen war, da es auch dem Dritten Reich nicht bis zur letzten Konsequenz gelang, „das heutige Chaos im Zeugungsgeschehen ... zu bekämpfen,“ weil es in der Natur der Sache lag, daß es schon in Anbetracht der unehelichen Kinder mehrerer Parteiführer (Heinrich Himmler z.B. hatte zwei Kinder mit seiner Sekretärin) keine durchschlagenden Motive für eine vollständige Gleichschaltung aller diesbzüglichen Verhaltensweisen geben konnte.

Die NSDAP verlangte von ihren Mitgliedern schon in den Zwanziger Jahren das Blutsbekenntnis in Form einer einfachen Erklärung. Um 1930 jedoch verflochten sich in Mitteldeutschland im Vorfeld des Januar 1933 persönliche und geistige Fäden zu einem immer dichteren Netzwerk: 1930 stellte die NSDAP in Thüringen mit Wilhelm Frick erstmals einen Innenminister. Er berief in dieser Eigenschaft „Rasse“-Günther (1891-1968) als Professor für Sozialanthropologie in Jena. Zu dessen Antrittsvorlesung am 15.11.1930 erschien überraschend Adolf Hitler. Im selben Jahr erschien im „Thüringer Heimatspiegel“ ein Aufsatz des Familienforschers Walther Tröge über „Erbgesundheitslehre, Familienforschung und Jungbauernschaft“ [152] , in dem zu lesen war: „In Herdbuchvereinen werden sorgfältig Stammbäume geführt, systematisch werden Ställe in einer bestimmten Zuchtrichtung aufgebaut. Bei Ankauf von Hengsten wird größter Wert auf Abstammung gelegt, auf gute Vererbbarkeit gewisser erwünschter Eigenschaft und Körperbeschaffenheit. Bei der Paarung vermeidet man es, Tiere ganz entgegengesetzter Beschaffenheit und Konstitution zusammenzubringen. ... Noch augenfälliger tritt die ‘Sünde wider das Blut’ bei der Hundezucht zutage. Manches Zufallsergebnis, das in seiner Mißgestaltung herumläuft, ist eine stumme Anklage gegen Rassefrevel. ... Klein-, Groß- und Mittelbauern heirateten im allgemeinen streng innerhalb ihrer Betriebsgrößen [153] und, wenn auch nicht dem Worte nach, so hat man doch dem Sinne nach durchaus den Begriff ‘bäuerliche Mesalliance, Mißheirat’ gekannt. ... Mancher Bauernjunge hat vielleicht mit den Zähne geknirscht, wenn die Bäuerin-Mutter irgendeine Liebelei nicht billigte.... Hinterher aber hat ers doch seiner Mutter gedankt. ... Ich habe mich gefreut, wenn ich sah, wie evangelische Geistliche in die Fußtapsen ihrer alttestamentlichen Vorgänger traten und ihren Bauernfamilien am Tage der silbernen oder auch schon der grünen Hochzeit Stammtafel ihres Geschlechtes überreichten.“ Ungeschminkt ist die Sprache auch bei Hermann Gauch [154] : „Der Bauer wird gerade durch die Zucht seiner Haustiere auf die Bedeutung der Rassenauslese und der Reinrassigkeit hingewiesen, und dieser Umstand bildet auch für die Zukunft eine sichere Grundlage zum Verständnis für den Nordischen Rassegedanken.“

Am 10.5.1930 kam es auf Burg Saaleck zu der historischen Begegnung zwischen Hitler, Heß und dem bis dahin parteilosen Darré, in dessen Folge Darré die Leitung der gesamten Agitation der NSDAP auf dem Lande bzw. gegenüber der Bauernschaft übertragen wurde. Darré, der klug genug war, seine romantischen Zukunftspläne bei dieser auf die Massen gerichteten Agitation in den Hintergrund zu stellen, erledigte diese Aufgabe so erfolgreich, daß er einen, wie auch Hitler offen anerkannte, nicht unerheblichen Anteil an der Machtergreifung hatte, woraus sich für Darré in den Anfangsjahren des Dritten Reiches eine Machtstellung als „Reichsbauernführer“ ergab, die ihm ermöglichte, mit der Verwirklichung seiner weitgesteckten Pläne als praktizierender Menschenviehzüchter [155] zu beginnen. Eine weitere Grundlage seiner Macht war das entstandene freundschaftliche Verhältnis zu Heinrich Himmler. Für Himmler, eher Organisator als Theoretiker, aber mit sehr ähnlichen Zielen, die er selbst nie in dicken Schriften wiedergeben konnte und wollte, war Darré der geeignete Partner, und beide hatte Artamanenerfahrung. Am 31.12.1931, also an dem Tage, als Himmler den „Verlobungs- und Heiratsbefehl“ der SS erließ, berief er Darré zugleich zum Chef des „Rasse- und Siedlungshauptamtes SS“ [156] . Der Befehl gestattete einem SS-Mann die Heirat nur dann, wenn ihm der Reichsführer SS dazu seine Zustimmung gab. [157] Die Erteilung der Heiratsgenehmigung war von der rassischen und erbgesundheitlichen Einschätzung des Ehepartners abhängig, über die im „Rasse- und Siedlungshauptamt SS“ befunden wurde. Während Darré alle Familien der Erbhofbauern nach der Reihenfolge ihrer Eintragungen in einem „Sippenbuch“ erfassen wollte, das also ein Art bäuerliches Stutbuch werden sollte, hatte die SS begonnen, ein analoges SS-Sippenbuch anzulegen. Bei der Besprechung von Darré mit Himmler am 21.1.1935 gab es deshalb grundsätzliche Übereinstimmung für ein gemeinsames Vorgehen, und es lag zu dieser Zeit bereits ein voll ausgearbeitetes Exemplar einer Sippen-Lochkarte vor. Man rechnete mit insgesamt 1 Million Familien und 350 000 Reichsmark Kosten für die vereinigte Kartei.

„Wir gingen so wie der Saatzüchter, der eine alte, gute Sorte, die vermischt und abgebaut ist, wieder rein züchten soll, zuerst über das Feld zur sogenannten Staudenauslese geht, zunächst daran, rein äußerlich die Menschen abzusieben, die wir glaubten für den Aufbau der Schutzstaffel nicht brauche zu können. Die Art der Auswahl konzentrierte sich auf die Auswahl derjenigen, die körperlich dem Wunschbild, dem nordisch-bestimmten Menschen, am meisten nahekommen. ... Jahr um Jahr werden unsere Forderungen in demselben Maße schärfer, als durch die Auswirkungen der deutschen Rassegesetze und das immer mehr erwachende Verständnis für Blut und Zucht der Aufstieg de deutschen Menschheit anhebt. Ebenso wissen wir, daß die erste nach äußeren Gesichtspunkten - heute nach Ahnentafeln und vielfachen Untersuchungen [158] ergänzte Auswahl - nur das erste, aber auch nur das allererste Ausleseprinzip sein kann, daß ein durch alle Jahre des Lebens in der Schutzstaffel gehender Ausleseprozeß die Fortsetzung sein muß und daß die Aussiebung der charakterlich, willensmäßig, herzensmäßig und damit blutsmäßig für uns nicht Tauglichen folgen muß.“ [159] Dann folgt eine in der Geschichte der Menschheit erstmals gezogene, aber aus der Logik der angewandten Viehzucht sich ergebende Schlußfolgerung: „Durch Gesetze, die wir uns selbst geben, wollen wir für alle Zukunft dafür sorgen, daß nicht etwa jeder Sohn einer im Sippenbuch der SS eingetragenen SS-Familie die Anwartschaft oder gar das Recht hat, wieder SS-Mann zu werden, sondern wir wollen dafür sorgen, daß immer nur ein Teil der Söhne dieser Familien von uns als SS-Männer aufgenommen und anerkannt werden und werden weiter darauf bedacht sein, daß ständig die Auslese und der Blutstrom besten deutschen Blutes des gesamten Volkes in die Schutzstaffel Eingang nehmen möge. ... Durch härteste Schule, durch die zeitlebens jeder von uns zu gehen hat, durch Jahre für Jahre abzulegende Leistungsprüfungen sorgen wir dafür, daß der Mut und der Kampfeswillen jedes einzelnen ... auf die Probe gestellt wird. ... Ich darf Sie versichern, daß es kein Zufall ist, daß der Reichsbauernführer des Deutschen Reiches seit Jahren als Führer der SS angehört und als Obergruppenführer Chef dieses Rasse- und Siedlungs-Hauptamtes ist, sowie es kein Zufall ist, daß ich Bauer bin und dem Reichsbauernrat angehöre.“

Das ein derart leistungsorientierter Zuchtorden - etwa 50 000 Männer zum Zeitpunkt der Machtergreifung - das leibhaftige Gegenstück zum Kommunismus sein mußte, ergibt sich zwangsläufig. Der andere Antipode des Vorhabens, aber insgeheim auch Vorbild, war die Entwicklung des Judentums, dessen Angehörige duch soziale Zwänge seit vielen, vielen Jahrhunderten in jeder Generation wieder vor der Wahl gestanden hatten und stehen, bekennende Juden zu bleiben und sich zu behaupten oder sich zu assimilieren und damit aus dem Judentum auszuscheiden (aber ohne daß dabei äußere körperliche Merkmale eine wesentliche Rolle gespielt hätten). Mit diesem Wissen im Hintergrund hatte Professor Dr. Hans Friedenthal, selbst Jude, in seinem Vortrag [160] vor der „Gesellschaft für jüdische Familienforschung“ am 24.3.1926 in Berlin gesagt: „Das Wort ‘Rasse’ stammt nach dem Ethymologischen Wörterbuch von Kluge aus dem arabischen, von wo es seit dem fünfzehnten Jahrhundert von Portugal über England und Frankreich nach Deutschland vordrang. ... Von den Tierzüchtern wird das Wort Rasse in dem Sinne gebraucht, um eine Summe von Individuen zu bezeichnen, welche vom Menschen nach bestimmten Prinzipien ausgelesen wird sind, um ein vom Menschen festgesetztes Zuchtziel zu erreichen. ... Könnte die Menschheit sich ein besseres Ziel setzen, als die Erzeugung des Menschen anzustreben, welcher zugleich gut und klug, gesund und schön ist? ... Der Weg zur Erreichung dieses Zieles wäre derselbe wie bei den Tieren. ... Selbst wenn nur einige wenige Exemplare innerhalb der Menschheit einen Anfang im Sinne dieser Rassenzüchtung machen wollten, wäre es möglich, von dem Beginn der Entstehung einer Kulturrasse zu sprechen.“

Rasse auch als mögliches Ergebnis eines politischen Willensaktes verstehen zu können, war also durchaus Zeitgeist. Und Völkerkundler und Anthropologen erweckten mit Bildern und Beschreibungen von Massai- und Nubakriegern, daß es sich dabei um eine Realität handeln könne. Der Verfasser des „Deutschvölkischen Katechismus“ von 1931 irrte sich gründlich, wenn er meinte: „In ferner Zeit, vielleicht in 50 oder 100 Jahren, wenn die Menschheit etwas weiter fortgeschritten ist als heute, wird man sicherlich mit grenzenlosem Erstaunen von der Existenz der im folgenden (hier behandelten) Verbände und Organisationen und ihren Anschauungen lesen. ... Man wird vielleicht geneigt sein zu glauben, es handle sich ... um Fantasieprodukte. ... Die hier behandelten Organisationen sind zeitbedingt, Sie sind vorübergehende Erscheinungen.“

1933 kamen die „vorübergehenden Erscheinungen“ an die Macht und verloren sie erst nach zwölf, zum Schluß sehr bitteren Jahren, wieder. Wer aber meint, daß damit die Existenz derartiger Organisationen und Denkrichtungen beendet worden wäre, irrt sich wieder. Sie haben das Jahr 1945 überlebt oder sich neu gegründet. Sie gab und gibt es nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern auch in vielen anderen Kulturräumen. In der Regel handelt es sich um Auffassungen, denen kleine Minderheiten anhängen [161] . Das Besondere des Jahres 1933 im Deutschen Reich ist, daß die verschiedensten Strömungen in einer Sammlungsbewegung mündeten, die einen außerordentlich fähigen Führer gefunden hatte, der es verstand, mit seinem rhetorischen Charisma die Hoffnungen eines von militärischer Demütigung, wirtschaftlicher Not und politischer Enttäuschung gebeutelten großen Volkes zu bündeln. Im Schatten dieses Führers war die Macht eines Darré und eines Himmler angesiedelt, aus der sich die Rolle der Genealogie im Dritten Reich ergab.

 

„So sind wir angetreten und marschieren nach unabänderlichen Gesetzen als ein nationalsozialistischer, soldatischer Orden nordisch bestimmter Männer und als eine geschworene Gemeinschaft ihrer Sippen, den Weg in eine ferne Zukunft und wünschen und glauben, wir möchten nicht nur sein die Enkel, die es besser ausfochten, sondern darüber hinaus die Ahnen spätester, für das ewige Leben des deutschen germanischen Volkes notwendiger Geschlechter.“ So lautete der „ewige Marschbefehl“, den Heinrich Himmler der SS zu geben versuchte.

Die Wirklichkeit der genealogischen Vereinstätigkeit war eher eine andere. Wülfrath stellte 1941 verärgert fest [162] : „Leider ist es den zum Teil alten genealogischen Vereinen durchweg nicht gelungen, das durch die Förderung des Nachweises arischer Abstammung hervorgerufene Interesse an Ahnenforschung recht zu lenken; die Genealogie ist noch mehr ausgeartet in bloße Datensammelei. Man hat jüngst in durchaus unpolemischer Weise den positivsten Typ der Sippenforscher mit Briefmarkensammlnern verglichen. Die Sammlernaturen werden angezogen durch die Eigenschaft der Ahnentafel, eine genau festgelegte Zahl von Menschen. ... Der Sammler sucht also wie in einem Briefmarkenalbum die leeren Plätze auszufüllen. Gelingt ihm dies, so empfindet er die alte Sammlerfreude. Ja, er hat dann oft sogar nicht mehr das Bedürfnis, über die üblichen Angaben von Geburt, Tod und Eheschließung hinaus etwas über seine Ahnen zu erfahren.“


Teil I: Das Blutsbekenntnis
Teil II: Historische oder völkische Genealogie?

[123] Bisher hat noch niemand die Themen der zumeist monatlichen Versammlungen der genealogischen Vereine im Laufe des vergangenen Jahrhunderts untersucht. Es gibt Themen (zur Quellenkunde und Forschungsmethodik), die wiederholen sich in allen Vereinen, andere sind eher zeitbedingt. Eine derartige Analyse würde sicher auch originelle Themen zutage fördern, die wiederum für andere Vereine eine willkommene Anregung sein könnten.

[124] Blätter für Württembergische Familienkunde 2 (1926) 26-34.

[125] Zeitschrift der Zentralstelle für niedersächsische Familiengeschichte 2 (1920) 59-75 und 107-124.

[126] Pfeilsticker, Walter: Die Dauerbarkeit des Stammestypus und die Verwertbarkeit des Bildnisses zur Vererbungsforschung. Familiengeschichtliche Blätter 17 (1919) 27-30. - Pfeilsticker war um diese Zeit rühriger Vorsitzender des „Vereins für württembergische Familienkunde“, gleichzeitig aber auch im Geschäftsführenden Ausschuß der Leipziger Zentralstelle, die sich in Württemberg darüber hinaus durch F. von Klocke vertreten ließ. Zum Vorstand des Württembergischen Vereins gehörte auch Wilhelm Weinberg.

[127] Reche, Otto: Zur Geschichte des biologischen Abstammungsnachweises in Deutschland. Volk und Rasse 13 (1938) 369-375.

  [128] Elster, Alexander: Die sozialbiologische Grundlegung der Familienkunde. Kultur und Leben 2 (1925) 377-391.

[129] Kater, Michael H.: Die Artamanen - Völkische Jugend in der Weimarer Republik. Historische Zeitschrift 213 (1971) 577-638. - Schmitz, Peter: Die Artamanen. Landarbeit und Siedlung bäuerlicher Jugend in Deutschland 1924-1935. Bad Neustadt a. d. Saale: D. Pfahlen 1985.

[130] Tanzmann gründete 1919 in Hellerau bei Dresden den Hakenkreuz-Verlag.

[131] Bedeutungsvoll für die Gründung war auch der Aufsatz von: Hentschel, Willibald: Was soll aus uns werden? Deutsche Bauernhochschule 3 (1923) H. 3, S. 44f.

[132] Einer der Artamanen-Gauführer war Heinrich Himmler. Er war 1928 zum Führer des Gau Bayern berufen worden, aber in dieser Rolle kaum aktiv.

[133] Holfelder, Hans: Aufgaben der Artamanenbewegung. Deutsche Bauern-Hochschule 7 (1927) 4. Folge.

[134] Ein Vorbild für Darré waren die „Heldengüter“ in Ungarn. Horthy hatte seine Elite von Frontsoldaten des I. Weltkrieges, und zwar ohne Unterschied des Dienstgrades, in einer „Heldengenossenschaft“vereinigt und mit Grundbesitz ausgestattet. Die Absicht war, „aus jener Schicht der Nation, welche zweifellos die wertvollste und die gesundeste ist, einen neuen Stand ins Leben zu rufen, welcher jedem als Vorbild dienen könne und die Tugenden der ungarischen Rasse traditionell weiterpflege.“ Zitiert nach: Haushofer, S.  165, siehe Fußnote xx.

[135] DZfG, alte Zentralstelle, Mappe 79. Ebenso die folgene Fußnote:

[136] Nicht direkt zu unserem Thema gehören die folgende Begebenheiten: Der Vater Darrés, Richard Darré, war 1929 verstorben und hatte seine „Kriegs-Chronik“, bestehend aus 36 handschriftlichen Bänden, u. a. auch „mit Briefen und Bemerkungen intimster Art“, testamentarisch der Leipziger Zentralstelle vermacht. Seine Erben, die Kinder und die Witwe, fürchteten Enthüllungen aus dieser Chronik und wollen sie zurück, jedoch lehnt Hohlfeld ab. Am 11.5.1934 erklärte Darré seinen Austritt aus der Zentralstelle, erklärt sich aber am 16.6. bereit, faktisch als Ehrenmitglied, weiter in der Mitgliederliste geführt zu werden. Am 15.1.1935 unterrichtet der Direktor der Deutschen Bücherei, Uhlendahl, Hohlfeld über das Gesuch des Burghauptmanns und SS-Obersturmführers Manfred von Knobelsdorff, Schwager von Darré, die „Kriegs- und Familienchronik des Richard Darré“ auf die Wewelsburg auszuleihen. Da Hohlfeld sich sträubt, schickt Darrè am 9.3.1935 die Geheime Staatspolizei und läßt die Chronik abholen. Am 27.12.1937 bestätigt der Chef des Sicherhauptsamters des Reichsführers SS, daß die Chronik am 15.7.1937 dem Adjutanten von Darré, SS-Hauptsturmführer Klumm, ausgehändigt worden ist. Am 15.1.1938 verlangt Hohlfeld vom Chef des Sicherhauptsamtes die Chronik zurück, doch vergeblich. Über ihren weiteren Verbleib ist nichts bekannt.

[137] Darré, R. Walther: Professor Frölich als Lehrer und Wissenschaftler. In: Festschrift für Prof. Dr. Gustav Frölich zum 60. Geburtstag. Berlin: P. Parey 1939 (=  Kühn-Archiv 52), S. XIII. - Ich danke Herrn Prof. Dr. Rudolf Hagemann für seine Recherchen in Halle zu Frölich und seinem Umfeld.

[138] Reischle, Hermann: Reichsbauernführer Darré. Der Kämpfer um Blut und Boden. Eine Lebensgeschichte. Berlin: Zeitgeschichte 1938, hier S. 28-29. 

[139] Frölich, Gustav: Lehrbuch der Pferdezucht. Des Pferdes Rassen, Körperbau, Züchtung, Ernährung und Haltung. Berlin: P. Parey 1926.

[140] Deutschvölkischer Schutz- und Trutzbund, Ortsgruppe Meißen (Hrsg.): Eine unbewußte Blutschande, der Untergang Deutschlands. Meißen 1921.

[141] Zitiert nach: Ackermann, Josef: Heinrich Himmler als Ideologe. Göttingen: Musterschmidt 1979, S. 112.

[142] Kronacher, Carl: Allgemeine Tierzucht. Ein Lehr- und Handbuch für Studierende und Züchter. Berlin: P. Parey 1916-1920.

[143] Holle, Hermann Gustav: Allgemeine Biologie als Grundlage für Weltanschauung, Lebensführung und Politik. München: J. F. Lehmanns Verlag 1919.

[144] Borrmann, Norbert: Paul Schultze-Naumburg 1869-1949. Maler - Publizist - Architekt. Vom Kulturreformer der Jahrhundertwende zum Kulturpolitiker im Dritten Reich. Essen: R. Bacht 1989. - Schultze-Naumburg war bereits von 1904 bis 1912 der erste Vorsitzender des „Deutschen Bunds Heimatschutz“ gewesen.  

[145] Als Beispiel, wie rasch die Darréschen Arbeiten auch in manchen regionalen Vereinen der Genealogen aufgenommen wurden: Brenke, Annemarie: Der Sippenrat als erbbiologischer Eheberater. Altpreußische Geschlechterkunde 4 (1930) 52-54. - Im selben Jahr erschien Bd. 2 des Ostpreußischen Geschlechterbuches, natürlich mit Koerner als Herausgeber.

[146] Rechenbach, Horst: Der deutsche Bauer als Vater des kommenden Volkes. Die Sonne. Monatsschrift für nordische Weltanschauung und Lebensgestaltung.  6 (1929) 418-423. - Siehe zu Rechenbach und seiner bedeutenden Rollen nach 1933 auch: Weiss, Volkmar: Die Auseinandersetzungen zwischen Reichsnährstand und Reichssippenamt um die Kirchenbuchverkartung. Ein Beitrag zur Geschichte der Genealogie in der Zeit des Nationalsozialismus. Genealogie 49. Jg. (2000) 1-17. - Auch Rechenbach begann seine berufliche Laufbahn 1992 als Assistent im Tierzuchtinstitut der Universität Göttingen. 

[147] Nachlaß Darré, Bundesarchiv, Nr. 4: Eidesstattliche Erklärung von Richard Walther Darré vom 30.10.1947.

[148] In diesem Abschnitt stützen wir uns auf den „Deutschvölkischen Katechismus“, Heft 2,  S. 161-171 , vgl. Fußnote xx

[149] Ruttke, Falk: Rasse, Recht und Volk. Beiträge zur rassengesetzlichen Rechtslehre. München: J. F. Lehmanns Verlag 1937, S. 12ff.

[150] Kein anderer als dieser Hülsen, vormals Gründer der „Geschäftsstelle für blutgemäße Sippenpflege“, wendet sich im Januar 1947 (sic) an Hohlfeld in Leipzig und sucht Unterstützung für eine „Geschäftsstelle der Deutschen Sippenforschung“ und eine „Deutsche Sippen-Partei“. „Möge unser damaliges Beginnen seine der heutigen Lage angepaßte ... Fortsetzung erfahren.“ -  Hohlfeld antwortet am 16.5.1947: „Ich halte den Vorschlag einer politischen Partei mit den von Ihnen vorgeschlagenen Absichten und Zielen für ganz unglücklich und verhängnisvoll. ... Ich kann die Zentralstelle nur erhalten, wenn ich sie grundsätzlich frei halte von jeder Zusammenarbeit mit irgendwelchen Vereinigungen, die an Nationalsozialistischen Rassendilettantismus auch nur von Ferne erinnern.“ StAL, DZfG, alte Zentralstelle, Mappe   . - Vgl. auch: Weiss, Volkmar: Das Überleben von Johannes Hohlfeld als Geschäftsführer der Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte in Leipzig in den Jahren 1933-1939. Herold-Jahrbuch, N.F. 5 (2000) 211-226.

[151] Herausgeber der Schrift ist Dr. Bernhard Kummer (1897-1962), zugleich Herausgeber der „Nordischen Stimmen“ und der „Zeitschrift für deutsche Rassen- und Seelenkunde“.

[152] Tröge, Walther: Erbgesundheitslehre, Familienforschung und Jungbauernschaft. Thüringer Heimatspiegel 7 (1930) 132-138. - Vgl. auch: Staemmler, Martin: Rassenhygiene im Dritten Reich. Ziel und Weg 2, Nr. 1 (1932) 7-22; Vortrag auf dem 2. Reichstag des Nationalsozialistischen Deutschen Ärtztebundes am 5./6.12. 1931 in Leipzig. 

[153] Vgl.: Weiss, Volkmar: Sozialstruktur und Soziale Mobilität der Landbevölkerung. Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 39 (1991) 24-43.

[154] Gauch, Hermann: Der germanische Glaube als Träger des Rechts und der Wissenschafts des Bauerntums und der Rassezucht. Leipzig: A. Klein 1933.

[155] Darré, R. W.: Das Zuchtziel des deutschen Volkes. Volk und Rasse 6 (1931) 138-144. - S. 142: „Die Aufgabe des Staates würde sich also auf 3 Gebieten zu betätigen haben, um eine geeignete Nachkommenschaft zu gewährleisten. 1: Leistungsprüfung der heranwachsenden jungen Männer in charakterlicher und beruflicher Hinsicht unter Beachtung eines gewissen Mindestmaßes körperlicher Gesundheit. 2. Scheidung der Mädchen eines jeden Jahrgangs nach solchen, die eine Ehe mit Kindersegen eingehen dürfen und solchen, die dies nicht dürfen. 3. Erziehung der jungen Männer zur richtigen Gattenwahl.“

[156] Weingartner, James J.: The SS Race and Settlement Main Office: Towards An Orden of Blood and Soil. The Historian (Allentown, Pa.), No. 1 (1971) 62-77. - Erst 1933 begann sich Himmler für seine eigene Ahnentafel zu interessieren, wie aus einem Brief an Achim Gercke vom 29.7.1933 geschlossen werden kann. Siehe: Heiber, Helmut (Hrsg.): Reichsführer! ... Briefe an und von Himmler. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1968, Brief Nr. 2.

[157] 1937 wurden z.B. 307 Personen aus der SS ausgeschlossen, weil sie den Heiratsbefehl mißachtet hatten.

[158] Dazu gehörten auch einfache Intelligenztests. Vgl. dazu aber: Weiss, Volkmar: Die IQ-Falle. Intelligenz, Sozialstruktur und Politik. Graz: Stocker 2000; Der Fall Wilhelm Peters, S. 25-28.

[159] Himmler, Heinrich: Die Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation.  München: F. Eher Nachf. 1935 (= Hier spricht das neue Deutschland 11). 

[160] Friedenthal, Hans: Familie und Rasse. Jüdische Familienforschung 2 (1926) 140-142.

[161] Weißmann, Karlheinz: Druiden, Goden, Weise Frauen. Zurück zu Europas alten Göttern. Herder/Spektrum 1991. - Eschebach, Insa und Elke Thye: Die Religion der Rechten. Völkische Religionsgemeinschaften - Aktualität und Geschichte. Dortmund: Humanitas 1995.

[162] Wülfrath, Karl: Geschichtliche Volkskörperforschung. Jahrbuch 1941 des Vereins der Freunde und Förderer der Universität Köln, 3-14.


Eine ausgezeichnete Link-Sammlung zum Thema Holocaust:

Im Schatten der Nürnberger Gesetze


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