Text aus: Weiss, Volkmar und Katja Münchow: Ortsfamilienbücher mit Standort Leipzig in Deutscher Bücherei und Deutscher Zentralstelle für Genealogie. 2. Auflage. Neustadt/Aisch: Degener 1998, S. 97-104
6. Der Arbeitskreis "Die bäuerliche Lebensgemeinschaft"
1940, im Vorwort zu Wülkers Monographie (1940), schreibt Bruno K. Schultz über die Tätigkeit des Arbeitskreises "Bäuerliche Lebensgemeinschaft": "Er verfolgte bereits seit mehreren Jahren den Zweck, die Erforschung der bevölkerungsbiologischen und soziologischen Verhältnisse unseres Landvolkes ... zu vertiefen und ... einen Gesamtüberblick über den Erbanlagenbestand der ländlichen Lebensgemeinschaft herauszuarbeiten ... ." Organisatorisch war
er seit 1934 als Arbeitskreis VII/13 der Reichsarbeitsgemeinschaft
„Agrarpolitik und Betriebslehre“ beim Forschungsdienst angesiedelt, der zur
Reichsarbeitsgemeinschaft der Landbauwissenschaft gehörte. Bereits 1938 kann
Schultz (bis 1937 Assistent der Abteilung Demographie und Genealogie am
Kaiser-Wilhelm-Institut für Psychiatrie in München) als „Federführender“ des
Arbeitskreises über 20 zum Teil begonnene und zum Teil abgeschlossene
Untersuchungen berichten (28). Von größerer Bedeutung für die Tätigkeit des Arbeitskreises
scheint aber Heinz Wülker gewesen zu sein, der sich
1938 in seinem „Arbeitsplan für bevölkerungsbiologische Dorfuntersuchungen“
(29) als ein programmatischer Kopf ausweist, der die geistigen Anregungen von Scheidt nicht leugnen kann und will.
Neben einer Reihe weiterer
abgeschlossener Arbeiten (Müller 1941, Kothe 1941)
sind insbesondere die Habilarbeiten von Heinz Wülker
(1940) und Stella Seeberg (1938, verteidigt vermutlich erst 1942) zweifellos
dann als bemerkenswerte Leistungen einzustufen, wenn es dem Kritiker gelingt,
den bleibenden Gehalt aus einer mehr oder minder vom Zeitgeist geprägten
Terminologie herauszufiltern. Ziel der Arbeiten war eine komplexe soziologische
und wirtschaftliche Analyse ausgewählter Dörfer, die über die Zielstellungen
von Scheidt hinausging. Wenn wir heute zwischen Ortsfamilienbüchern der 1. Generation und Ortsfamilienbüchern der 2. Generation unterscheiden, dann
beruhen Bücher der 1. Generation allein auf den Daten der Kirchenbücher, d.h.
auf Tauf-, Trau- und Sterbematrikeln und enthalten in der Regel kaum mehr als
eine Berufs- und Standesangabe, um einen erwachsenen Mann in seinem sozialen
Status zu charakterisieren. Bücher der 2. Generation hingegen sollen im
Idealfalle die Totalität aller auf Personen beziehbaren Quellen ausschöpfen
(30). Von einem Familienvater wissen wir dann z.B. um 1800 in der Regel auch,
in welchem Hause er gewohnt hat, zu welchem Preis er es gekauft und
wiederverkauft hat, wie seine steuerliche Belastung war und ob und auf welche
Weise er in Rechtsstreitigkeiten verwickelt war. Die nackten Friedhofsdaten
weiten sich so in vielen Fällen zu einer Art Kurzbiographie aus, und ein Mann
wird in seiner sozialen Stellung in der Gemeinde auf ziemlich klare Weise
charakterisiert, auch der Wandel dieser Stellung im Laufe seines Lebens. Wenn
auch heute, 1998, noch die Feststellung gilt, daß es von den Ortsfamilienbüchern der 2. Generation erst sehr wenige gibt
und wir in den meisten Fällen schon zufrieden sein müssen, wenn von einer
Gemeinde ein Buch der 1. Generation vorliegt, dann beruht die Arbeit von Wülker (1940) bereits auf einem Datenmaterial, das für ein Ortsfamilienbuch der 2. Generation charakteristisch ist.
Heinz Wülkers zuständige
Dienststelle war das Stabsamt des Reichsbauernführers, also die unmittelbare
Umgebung von R. Walter Darré. Zweifellos war Heinz Wülker Nationalsozialist, und er ist für seine Überzeugung
im Krieg gefallen. Dennoch ist seine wissenschaftliche Leistung einer näheren
Betrachtung wert. Wülkers Thema (1940) war die
Verstädterung von drei Bauerndörfern in der unmittelbaren Nachbarschaft von
Hannover, vor allem die Überführung fast der gesamten Nachkommen in städtische soziale Gruppen. Die drei Dörfer
wurden 1891 nach Hannover eingemeindet, und untersucht wurde der Zeitraum von
1740-1891. Darüber hinaus versucht Wülker erstmals,
so etwas wie einen Überblick über die bis dahin vorliegenden Arbeiten zu
schaffen. Eine Tabelle über die Entwicklung der Geburtenzahlen mit ihrer
sozialen Differenzierung und einer Gliederung in 50-Jahres-Zeiträume kann sich
bereits auf 29 Untersuchungen (darunter viele unveröffentlichte und nicht mehr
auffindbare) stützen und belegt die Forschungsintensität seit etwa 1935. Eine
ähnliche Übersicht gibt es zur Säuglings- und Kindersterblichkeit.
Das methodische Ziel der Wülkerschen
Forschung waren vollständige Nachfahrentafeln, und schon mit dieser
außerordentlich schwierigen Datenerhebung markiert diese Arbeit einen frühen
forschungsmethodischen Höhepunkt der Arbeiten zur Sozialen Mobilität. Wülkers Frau (Wülker-Weymann
1941) zeichnete für eine begleitende detaillierte soziologische und
wirtschaftsgeschichtliche Analyse der Dörfer verantwortlich. In der Ausgangsgeneration stellt jeder der 40 Hofbesitzer 2,5% der gesamten Erbmasse (Wülker 1940). Nach 4 Generationen stellen die 8 schwächsten
Stämme 6,2%, die 8 stärksten Stämme 46,0% aller Nachkommen. Anstelle der
Statistiken und Tabellen zitieren wir im folgenden nur einige inhaltliche
Schlüsse und Verallgemeinerungen: „Es ist anzunehmen, daß ein Zusammenhang
zwischen der höheren Fortpflanzung in der ersten Ehe und einer erneuten Heirat
besteht; höhere Geburtenzahl, höhere Aufwuchsziffer
und ein größerer Anteil verheirateter Kinder bedingen zusammen das stärkere
Anwachsen der acht ausgewählten starken Stämme. ... Die Nachkommen der
Großbauern gehen zu einem beträchtlichen Teil in die
städtische Oberschicht über, zu einem kleinen Teil in die Mittelschicht und nur
ganz vereinzelt in die Unterschicht der Stadt. Die Erbstämme der Kleinkötner verteilen sich vor allem auf die Mittelschicht
der Stadt und zu kleineren Anteilen auf Ober- und Unterschicht. Die Brinksitzernachkommen finden sich in Berufen der städtischen Mittel- und Unterschicht, dagegen nur selten in den oberen städtischen Gruppen, wobei Wülker bei dieser
Sozialen Mobilität eine starke Abhängigkeit von der Schulbildung, der
Lebensleistung und der sozialen Herkunft des Ehepartners feststellen konnte. „Innerhalb der Kleinkötner
trennen sich die Familien eindeutig nach erblichen Voraussetzungen. Bei gleicher
Hofgröße erreichen nur solche Familien höhere soziale Stellungen, die schon
innerhalb des Dorfes unter rein bäuerlichen Verhältnissen mehr geleistet hatten
oder am engsten in Heiratbeziehungen zum Großbauerntum standen. ... Der
einfachen sozialen Ordnung des Dorfes, in der sich die Leistungsbedingungen nur
nach der Besitzgröße und den zusätzlichen Bewährungsmöglichkeiten (Nebenberuf,
Gemeindeämter) unterschieden, stehen in dem differenzierteren städtischen
sozialen Aufbau Berufe in dem größeren Spielraum von Leistungsanforderungen und
-möglichkeiten gegenüber. ... Nach vorhandenen Beispielen kann gezeigt werden,
daß die begabten Söhne von Kleinkötnern die
nahegelegene Höhere Schule der Stadt Hannover besuchten, während die Söhne
anderer Familien gleicher wirtschaftlicher Lage und Besitzgröße auf der
dörflichen Volksschule blieben ... . Die Schulwahl ist nicht in erster Linie
von der wirtschaftlichen Lage, sondern weitgehend von der Begabung abhängig.
... Die „Großen“ im Dorfe gelangen auch in der Stadt in die Berufe mit
geistigen Voraussetzungen und Führungsfähigkeit. ... Der direkte Übergang von
Bauernkindern der großen Höfe in die Industriearbeiterschaft ist eine seltene
Ausnahme.“
Auch Seeberg (1938) hat für ihre Familienblätter
des Dorfes Kuhbier in der Prignitz nicht nur die
Kirchenbücher, sondern auch Grundbuchakten und vieles mehr ausgewertet. „Die bedeutsamste biologische Wandlung der
Sozialstruktur liegt in der Veränderung der Kinderzahlen je Ehe. In den Ehen
zwischen 1725 und 1775 ist die Zahl der geborenen Kinder je Ehe bei den Bauern
ebenso wie im 17. Jahrhundert größer als bei den Arbeitern.“ Von 1725 bis 1750 hatten die Bauern 5,7
Kinder, von denen 3,9 14 Jahre und älter werden, die Arbeiter hatten 4,5
Kinder, von denen 2,9 14 Jahre und älter werden. Vor der Bauernbefreiung bestimmten die seßhaften Bauern das gesamte Gemeinschaftsbild. ... Die Höhe der Altenteile bedeutet für die Bauernhöfe vielfach eine hohe Belastung. ... Vor der Bauernbefreiung war eine Hofübergabe, bei der der Vater Anfang 50 war, keine Seltenheit. ... Je höher der Wert des Hofes aber stieg, desto mehr gab der Bauer mit der Hofübergabe auf. Die Steigerung des bäuerlichen Heiratsalters im vorigen Jahrhundert erklärt sich aus der verlangsamten Hofübergabe. Gefördert wird diese Verlangsamung besonders auch in der Gegenwart durch die Erhöhung der Lebensdauer. Bei der Aussicht, 80 Jahre alt zu werden, scheint eine Übergabe mit 60 bereits frühzeitig genug zu erfolgen. ... Zwischen 1900 und 1925 haben die Landarbeiter fast das Doppelte an Kindern je Ehe als die Bauern.
Sehr detaillierte Ergebnisse über die räumliche und
Soziale Mobilität, insbesondere auch
über die Abwanderung in städtische Berufe und über die Unterschiede in den
Kinderzahlen je Ehe enthält die Arbeit von Irmgard Kothe
(1941), die drei räumlich weit auseinanderliegende
Dörfer in Mecklenburg untersucht hat. In Göhlen/Krs. Ludwigslust z.B. stammen 100% der Ehepartner der
Bauern aus dem Ort, bei Büdnern 84%, bei Häuslern 67% und bei Handwerkern 68% (und bei diesen 14% aus einer Entfernung bis zu
10 km, 13% aus einer Entfernung von 10-20 km und 5% aus über 20 km Entfernung).
Als Beispiel eine Tabelle zur Sozialen Mobilität:
___________________________________________________________________________________________Soziale
Herkunft der Ehepartner in Göhlen/Krs. Ludwigslust 1700-1938
Bauern Büdner Häusler Handwerker
Bauern 95 3 1 1
Büdner 37 52 8 3
Häusler 19 7 66 8
Handwerker 15 9 24 52
_________________________________________________________________________________
Für den Zeitraum 1800-1825 z.B. ist die Zahl der
überlebenden Kinder bis 14 Jahre bei den Bauern in Göhlen
4,5 und bei den Büdnern 3,5; in Lohmen/Krs. Güstrow bei den Bauern 5,8, bei den Tagelöhnern 4,2;
in Grüssow/Krs. Waren bei
den Bauern 5,3, bei den Tagelöhnern 3,6.
Eine Mitarbeiterin von Schultz, eine Frau Pflaumer-Resenberger, hatte 1939 eine sehr detaillierte
Analyse über die Anerbensitte in Bayern vorgelegt. Von 46 bäuerlichen Betrieben
zweier Dörfer werden im Zeitraum
1560-1937 mit genauen Quellenbelegen zwölf Höfe wirtschaftlich und
familiengeschichtlich analysiert. Im Realteilungsgebiet hat Röhm
(1940) das Dorf Gruibingen untersucht und mit zwei anders strukturierten
Nachbargemeinden verglichen. „Gruibingen
zeigte sich ausgesprochen als Standort der Frühehe, und zwar sind es vor allem
die Bauernehen, in denen die Ehegatten schon in sehr
jungen Jahren (Durchschnitt Männer 27 Jahre, Frauen 24 Jahre) zum Heiraten
kommen. In den Realteilungsgebieten ist es üblich, daß die Kinder, je nach der
Größe des väterlichen Betriebes, eine bestimmte Bodenfläche als Heiratsgut vom
Vater erhalten, die für den Anfang meist zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse
des jungen Paares genügt.“ Die „Bauern“ von Gruibingen sind in Wirklichkeit
alle Klein- und Kleinstbauern, und die wirtschaftliche Struktur des Ortes mit
den vielen Webern erinnert sehr an das von Medick
(1996) untersuchte Laichingen (das weiter hinten, unter „Die Mikrohistoriker“,
diskutiert wird). Medick dürfte aber die Arbeit von Röhm nicht gekannt haben. Leider, weil Röhm
zeitlich dort anschließt, wo Medick abbricht. Denn
die Arbeiter heiraten in Gruibingen tatsächlich eher als die Bauern, aber erst
im Zeitraum 1866-1880. Inhaltlich sehr ähnlich zu Laichingen sind folgende
Aussagen über Gruibingen. „Der Vorteil
der Frühheirat und das Plus der sehr hohen Geburtenziffern ging infolge einer
außergewöhnlichen hohen Kindersterblichkeit fast ganz verloren, so daß der
sonst gerade für bäuerliche Gegenden charakteristische überdurchschnittliche
Geburtenüberschuß in Gruibingen nicht zu finden ist, und das ausgesprochene
Arbeiterdorf Überkingen in dieser Beziehung wesentlich
besser dasteht.“ Gruibingen im Realteilungsgebiet wird dann mit Türkheim im
Gebiet mit Anerbenrecht verglichen: „In
Türkheim kommt in dem hohen Heiratsalter einer der empfindlichsten Nachteile
des Anerbenrechts zum Vorschein. ... Die Verschlechterung der
Heiratsmöglichkeiten nach dem Krieg rührt in Türkheim von der späten
Hofübergabe und von dem Gesindemangel her. ... Im Jahre 1852 wurden in Türkheim
bei einer kleinen Hofzahl 148 Knechte und Mägde gezählt, im Oktober 1938 waren
es noch 45. Der Erbhofbauer in Türkheim kann aber seinen Hof nicht mit seiner
Ehefrau allein bewirtschaften, wie der Gruibinger Jungbauer seinen zunächst
kleinen Betrieb. Deshalb trifft man in Türkheim oft den Fall, daß sämtliche
Geschwister den Hof umtreiben, und der Anerbe auf die Heirat verzichtet, da er
sonst seine Arbeitskräfte verlieren würde. ... Die frühe Heiratsmöglichkeit
spielt bei der Gruibinger Bevölkerung eine große Rolle, deshalb neigt der junge
Gruibinger heute viel eher zur industriellen Arbeit als zu einer bäuerlicher
Betätigung.“ Röhm diskutiert dann diese
Zusammenhänge mit den Problemen, die das Zusammenlegen der Gruibinger Fluren zu
Erbhöfen mit sich bringen würde, da gerade diese dann vor ähnlichen Problemen
wie die Türkheimer Erbhöfe stehen würden, die zwar wirtschaftlich tüchtig, im Sinne der nationalsozialistischen
Bevölkerungspolitik aber untüchtig sind. Eine sorgfältige wissenschaftliche Analyse endet somit mit einem politischen Paradoxon.
Interessanter aber noch ist die Tatsache, daß die
Arbeit von Röhm (1940) auf klare Weise einen
Zusammenhang zwischen Heiratsalter, Kinderzahl und industrieller Tätigkeit bzw.
Nebentätigkeit für die Industrialisierungsphase belegt, wie er von einigen
Theoretikern für die Phase der sogenannten Protoindustrialisierung fälschlicherweise
angenommen wird (wir diskutieren das weiter hinten ausführlich). Das führt zu der Vermutung, daß eine an sich richtige empirische Beobachtung in eine falsche Zeit und einen falschen Zusammenhang verlegt worden ist. (Ähnlich wie das frühere Absinken der
Kinderzahl bei den Gebildeten und der gegenläufige Anstieg der Kinderzahl bei
den Armen um etwa 1880 zu dem darwinistischen Fehlschluß führte, daß nun die
Intelligenz der Menschheit bedroht sei und die Eugenik auf den Plan rief.)
Wenn man die Arbeit von Rechenbach (1940) über
Moordorf in Ostfriesland einfach ignoriert, macht man es sich mit
Wissenschafts- und Methodengeschichte zu leicht. Horst Rechenbach war
Hauptabteilungsleiter im Stabsamt des Reichsbauernführers, und Moordorf wurde „auf Anregung des Reichsbauernführers“,
also auf persönliche Anregung von Darré selbst „von Fachkräften bearbeitet“, und zwar
für den Zeitraum 1765-1939. Da bekanntlich auch Goethes Faust II damit
schließt, „den faulen Pfuhle abzuziehen“,
hatte der preußische König 1765 ein Urbarmachungs-Edikt
der Moore erlassen. Rechenbach kann zahlreiche zeitgenössische Quellen anführen
über den Widerstand gegen diese Urbarmachung und die
schlechte wirtschaftliche Entwicklung der Siedlung. „Ein Teil der Kolonisten machte gar nicht erst den Versuch, eine feste
landwirtschaftliche Existenz zu gründen.“ Es „ist festzustellen, daß es sich hier um das Beispiel einer völlig verfehlt angelegten
ländlichen Siedlung handelt. ... Es waren ... asoziale Elemente des eigenen
Volkes.“ Es werden dann Statistiken über Alkoholismus, Kriminalität,
Schwachsinn und Verschuldung und deren jeweilige Häufigkeiten und gegenseitige
Bedingung und Verflechtung in den Familien des Ortes vorgelegt und diskutiert. „Es ist überflüssig zu betonen, daß die
besonders minderwertigen Familien sich durch die größten Kinderzahlen
auszeichnen.“ Bei den Reichstagswahlen am 6.11.1932 hatte die KPD 48% der
Stimmen im Ort erhalten. „Die Mehrzahl
der Moordorfer Einwohner war vor der Machtübernahme
der NSDAP. marxistisch und kommunistisch eingestellt und ist es zum Teil noch.“
1934 waren 24 Kommunisten verhaftet und 1937 noch einmal 10 ins KZ eingeliefert
worden. Aber Rechenbach kennt die Ursachen: „Einige
sind auf die Ursiedler zurückzuführen, die vor 150 bis 160 Jahren in dem ähnlichen
schlechten Rufe standen wie ihre heutigen Nachkommen.“ Ob derartigen seltsamen Schlüssen aber dadurch zu begegnen ist, daß heikle Daten aus den vergangenen Jahrhunderten einer
Selbstzensur zum Opfer fallen bzw. nur noch in frisierter und uns heute politisch korrekt erscheinender Form in Ortsfamilienbüchern veröffentlicht werden sollen, wie es Jüngst (31) jetzt vorgeschlagen hat, muß bezweifelt werden.
„In dauernder Verbindung mit dem Stabsamt des Reichsbauernführers“ erforschte (1941, mit
Teilveröffentlichungen im „Archiv für Bevölkerungswissenschaft und
Bevölkerungspolitik“ seit 1935) Josef Müller (geb. 1904) das Dorf Sulzthal in Unterfranken. Der Zwang zur Abwanderung war vorhanden: Kleinbauerndorf mit sehr zersplittertem Feldbesitz und extensiver Wirtschaft, geringe Einkünfte aus dem Bodenbesitz, Vorhandensein von zahlreichen Handwerksleuten, die im Dorf keine Arbeit finden konnten, Verdienstmöglichkeiten durch Nebenbeschäftigung nicht vorhanden, Übervölkerung. Ein Abwanderungsgefälle entstand so in Richtung des nahen Badeortes ... und nach der 25 km entfernten Fabrikstadt Schweinfurt und der etwa 150 km entfernten Großstadt Nürnberg, wo große Nachfrage ... bestand. Müller versucht nun auf der
Grundlage der Schulzensuren die Frage zu beantworten, ob die Abwanderung seit
1830 selektiv war oder nicht. „Als
Schulleistung selbst wurde der Durchschnitt der Noten der wichtigsten
Schulfächer (Rechnen, deutsche Sprache, Erdkunde, Geschichte, Naturgeschichte)
in der zweiten Hälfte der Schulzeit genommen. ... Mehr wie von jeder anderen
Schule ist daher von der Dorfschule zu erwarten, daß sie in ihren Schulnoten
die Begabtheit und Tüchtigkeit der Schüler und deren geistige Anlagen kundgibt,
zum mindesten relativ. Es gibt zu allen Zeiten ein bestes, ein mittleres und
ein schlechtes Drittel der Klasse. Beim Vergleich zwischen den Generationen
einer Sippe besagt es schon viel, wenn man weiß, daß ihre Glieder etwa zunächst
dem obersten Drittel .... angehörten. ... Eine weitere Frage ist die, ob in der Schulleistung sich schon die ungefähre künftige Lebensleistung anzeigt. In weitgehendem Maße muß diese Frage für unsere Verhältnisse bejaht werden. Dann folgen Fallbeispiele mit der üblichen
zeichnerischen Darstellung der verwandtschaftlichen Zusammenhänge (und Berufsangaben),
z.B. bei der 1. Sippe Sch., alle
Vertreter mit Note I oder II:
„Handwerkersippe mit guter Begabung. Notendurchschnitt: 1,44. Fortschrittlich,
unternehmungslustig, aufgeschlossen für die jeweiligen Verhältnisse. Der Ahne
war Bauer und Handwerker gewesen. Die Glieder mit besten Schulleistungen
wanderten in der 1. und 2. Generation ab. Vor allem für die abgewanderten
Glieder der 1. Generation bedeutete die Abwanderung wirtschaftlichen und
sozialen Aufstieg. Ihre Nachkommen sind heute teilweise in führenden
Stellungen. ... 64,4% der Sippenangehörigen wanderten ab. Fast die gleichen
Verhältnisse finden sich bei einer anderen Sippe mit Notendurchschnitt 1,45. ... Mehr noch wie bei Sippe Sch. war hier die
Abwanderung mit sozialem Aufstieg verbunden (Nachkommen: höhere Beamte, Ärzte,
Kaufleute usw.). Verhältnis der Abwanderung 81,8%. Die Nachkommen der im Dorf verbliebenen Glieder beider Sippen ... zeigen alle nur noch gute Schulleistungen. Beide Sippen sind Beispiele für eine negative Auslese der Landbevölkerung durch die Abwanderung. In diesen Sippen decken sich Schulleistung und Lebensleistung weitgehend. Es folgen weitere
Fallbeispiele, nun mit mittleren und
schlechten Schulzensuren, darunter die „4.
Sippe K.: Gut begabte bäuerliche Sippe. Notendurchschnitt: 1,92. Die besten Glieder sind abgewandert und befinden sich in der Fremde in sehr guten wirtschaftlichen Verhältnissen. Die im Dorfe verbliebenen Glieder der Sippe sind Bauern geblieben. Besitz unter Erbhofgröße. Es mangelt in fast allen Fällen, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht, an Fortschrittsgeist. Sie beharren auf dem Gegebenen und versuchen nicht weiter aufzubauen. Sie befinden sich so zum Teil in weniger günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Auch in der Dorfgemeinschaft sind sie nicht führend. Dann die 5. Sippe W.: Schwach begabte bäuerliche Sippe. Notendurchschnitt 3,2. Geringe geistige Veranlagung, schwacher Lebenswille, mangelnder Fortschrittsgeist, zurückgebliebene dürftige Wirtschaftsverhältnisse. Der schlechten Schulleistung entspricht auch die mangelhafte Lebensleistung. In vereinzelt gelernten Handwerksberufen wird nur vorübergehend gearbeitet. Die kleinen bäuerlichen Betriebe liefern das Notdürftigste zum Leben. ... Die Abwanderung aus der Sippe beträgt 0%.
Es folgt die Gesamtstatistik des Dorfes Sulzthal:
_________________________________________________________________________________
Schulzensuren I II III IV
mittlerer IQ 125 107 90 72
n
%
_________________________________________________________________________________Gesamtbevölkerung 741 8 47 38 7
Abgewanderte 240 14 57 24 6
Zurückgebliebene im Dorf 501 6 42 45 8
_________________________________________________________________________________
„Was ...
zurückblieb, setzt sich großenteils aus Menschen zusammen, die sich durch eine
konservative Haltung auszeichnen, die weniger Wagemut, Unternehmungslust und
Fortschrittsgeist zeigen. Es sind Menschen, die in der Erfüllung ihrer
Berufsarbeit ihre Hauptaufgabe sehen. ... Man kann der Meinung sein, daß diese
Auslese ... nicht so sehr von Schaden sei, wie es zahlenmäßig erscheint, da aus den im Dorfe verbliebenen Gliedern doch wieder Begabte hervorgehen.“
Wir werden weiter unten diese Ergebnisse in Zusammenhang mit den neueren
Ergebnissen und Interpretationen von Zurfluh (1988) diskutieren.
In insgesamt 7 benachbarten Dörfern hat Müller
(1941) darüber hinaus aus den familienweisen Verkartungen heraus 642 Ehepaare erfaßt, für die bei beiden
Eltern zusätzlich die Schulzensuren verfügbar waren, mit insgesamt 2051 Kindern
und ihren jeweiligen Schulzensuren. Untersucht werden die Verteilungen der
Ehepartner wie auch die Verteilung der Kinder. „Durchweg haben sich Ehepartner mit gleicher oder ähnlicher Begabung
gefunden (87,9%). ... Bei Vergleich der einzelnen Berufsgruppen untereinander
zeigen die bäuerlichen Ehen den höchsten Anteil von Ehen mit gleichen oder
ähnlichen Partnern. ... Gewöhnlich ist man der Meinung, daß bei den bäuerlichen
Heiraten die Größe des Besitzes und der Wert des zu erheiratenden Gutes die
Hauptrolle bei der Eheschließung spielen und diesen gegenüber die
Persönlichkeit in den Hintergrund tritt.
... Aber wir können hier feststellen, ... es fanden sich bei der Eheschließung vorwiegend die Personen zusammen, die entsprechend ihres Begabungsstandes zusammengehören. ... Die Ehen mit gutbegabten Partnern haben im Verhältnis die größte Anzahl wieder gutbegabter Kinder, während den Ehen mit geringer begabten Partnern größtenteils Kinder entstammen, die selbst schwache Begabung aufweisen. Das alles wird mit sehr detaillierten Tabellen belegt.
Die Kinder, die aus einer Ehe stammen, gehören nicht immer der Begabungsstufe der Eltern an. Geschwister können große Verschiedenheiten aufweisen, doch ist die Begabungsstreuung eine engere als unter Nichtgeschwistern. ... Es ist auch bei der Kindergruppe noch eine Begabungsstreuung vorhanden, wie sie die Elterngruppe zeigt. Man könnte
dazu neigen, diese Schlußfolgerungen schon aus dem Grunde zur Seite zu
schieben, weil die Untersuchung in einer Zeit gemacht worden ist, wo mit
vordergründigen politischen Verzerrungen zu rechnen ist. Ganz so einfach sollte
man es sich aber nicht machen: Die Schulzensuren beziehen sich auf den Zeitraum
1840-1930, und die wesentlichen statistischen Ergebnisse der Untersuchung sind
auch an Familiendaten aus anderen Orten reproduzierbar und damit ziemlich
zeitlos (32a).
Die Arbeit von Müller spannt einen Rahmen, den man
heute volkskundlich und familiensoziologisch nennen würde. „Der Familienzerfall wurde begünstigt, weil Funktionen, die früher der
Familie oblagen, heute vom Staat und seinen Organisationen übernommen sind. ...
Nicht selten stehen in unserem Dorfe sogar die staatlichen Organisationen und
die Jugendverbände (HJ., BdM.) mit ihren Beeinflussungen im Gegensatz zu den Anschauungen der Familie, und das Kind wird in einen inneren Widerspruch hineingetrieben. Wer würde vermuten, daß
solch kritische Einsicht 1941 in einer „Schrift des Rassenpolitischen Amtes der
NSDAP bei der Gauleitung Mainfranken“ gedruckt worden ist?
Man hat es sich zu leicht gemacht, wenn man bisher
die zwischen 1933 und 1945 erschienenen Auswertungen von Ortsfamilienbüchern
bzw. familienmäßigen Verkartungen
zumeist ignoriert hat. Es gilt vielmehr, rationalen Gehalt und irrationale
Prämissen der Arbeiten voneinander zu trennen.