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Text aus: Weiss, Volkmar und Katja Münchow: Ortsfamilienbücher mit Standort Leipzig in Deutscher Bücherei und Deutscher Zentralstelle für Genealogie. 2. Auflage. Neustadt/Aisch: Degener 1998, S. 159-163
Nachdem darwinistisches Denken
nach 1945 aus der bevölkerungsgeschichtlichen Forschung weitgehend verschwunden
war bzw. darauf kein ausdrücklicher Bezug mehr genommen wurde, kehrte es in
Form der Soziobiologie zurück. Während die Biologen
früher und im allgemeinen auch von der Existenz von Gruppenselektion ausgehen,
wie sie besonders in Kriegssituationen augenfällig wird - z.B. war die
Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland ein klarer Fall von
Gruppenselektion ebenso wie die Vorgänge in Bosnien heute - so bestreitet ein
Teil der Soziobiologen die Existenz eines solchen
Selektionsmechanismus. (Ob nun aus Motiven der „Politischen Korrektheit“ oder
aus einer höheren wissenschaftlichen Einsicht heraus, das kann und soll hier
nicht beurteilt oder nachvollzogen werden.) Das hindert diese Forscher aber
nicht, immer wieder neue empirische Fragen, deren Originalität verblüfft, an familienweise Verkartungen zu
stellen.
Die Kenntnis der
genauen Familienverhältnisse ermöglicht auch die Bearbeitung von überraschenden
Fragestellungen, die aus der Theorie der Soziobiologie abgeleitet werden und die alle
auf die Frage hinauslaufen, ob je nach dem Grade der genetischen Verwandtschaft
- im Volksmund als „Blutsverwandtschaft“ bezeichnet - auch der Grad der
sozialen Unterstützung zu- bzw. abnimmt. Ist z.B. die Kindersterblichkeit bei
Stiefkindern höher als bei leiblichen Kindern? Nach Stephan (1993) kann das
eindeutig bejaht werden. Wie beeinflußt das Vorhandensein von einem bereits
lebenden männlichen Hoferben die Lebenserwartung der anderen Geschwister (vgl. Voland 1984)? Um Kindestötung geht es da in aller Regel
nicht, sondern um ein klein wenig mehr an Zuwendung und auch an Nahrung, was in
Notzeiten aber für einen Säugling den Unterschied zwischen Leben und Tod
ausmachen kann, und um statistische Unterschiede, die in der großen Zahl erst
belegbar sind und nicht für eine konkrete Einzelfamilie.
„Qualität und Umfang des elternlichen
Fürsorgeverhaltens bestimmen auf direkte Weise den Reproduktionserfolg. Die
natürliche Selektion wird deshalb jene Verhaltensstrategie bevorzugen, mit der
elterliches Investment optimal, d.h. in Hinblick auf eine Maximierung der Gesamtfitness, eingesetzt wird. Weil aber die elterliche
Unterstützung eine nicht beliebig vermehrbare Ressource darstellt, werden
Eltern allokative Entscheidungen fällen müssen, die u.a. von dem Reproduktionswert des betreffenden Kindes ...
abhängen. Obwohl die soziobiologische Theorie
voraussagt, daß diese Veränderliche von einer Anzahl von Faktoren beeinflußt
ist, wie z.B. vom Alter und Geschlecht
des Kindes, sind empirische Belege ... eher spärlich. Dies überrascht, zumal
auch Forschungsarbeiten aus nichtbiologischen Disziplinen, namentlich der
Familiensoziologie und der Geschichtswissenschaften, die Familie als
Investitionssystem interpretieren, deren Hauptfunktion in der optimalen
sozialen Plazierung ihrer Mitglieder (z.B. durch Heirat, Ausbildung,
Berufswahl, Erbschaften u.a.) liegt. Die damit
erreichte Schaffung und Perpetuierung sozialer Ungleichheit realisiert sich
auch über die z.B. nach Geschlecht und Geburtsrang ungleiche Unterstützung der
Nachkommen. Von der biologischen und soziologischen Kennzeichnung der Kinder
kann also sowohl biologisch als auch historisch begründet angenommen werden,
daß sie als Rationale in den Strategien elternlichen Verhaltens eine Rolle spielen“, vermutet Voland (1984) und
untersucht im Ortssippenbuch Hesel
in Ostfriesland von 1664-1879 jene Familien, in denen ein Elternteil innerhalb
des ersten Lebensjahres des letztgeborenen Kindes gestorben ist, und er findet
u. a: „Nahezu die Hälfte der betroffenen
Kinder stirbt vor Vollendung des 15. Lebensjahres und ein Viertel bereits in
ihrem ersten Jahr. ... Unterinvestment der Witwe in ihr einziges Kind und die
daraus resultierende exzessive Sterblichkeit werden verständlich aus der
höheren Wiederverheiratungswahrscheinlichkeit von kinderlosen Frauen. ... Die
Wiederverheiratung reduziert die Überlebenswahrscheinlichkeit des betroffenen
Kindes. Das gilt mit ca. 5% besonders für die Wiederverheiratung der Witwe,
obwohl doch durchschnittlich eine Verbesserung der Lebenssituation durch Heirat
für Witwen anzunehmen ist. Das Mortalitätsrisiko der Kinder sich
wiederverheiratender Väter ... ist nur leicht erhöht, jedoch belegt die erhöhte
Sterblichkeit zwischen dem ersten und 15. Geburtstag das den Stieffamilien inhärente Risiko für die betroffenen Kinder. ... Einen Einfluß haben das Geschlecht des Kindes, sein Geburtsrang und das Alter des überlebenden Elters.
Mehrere
Untersuchungen von Voland und Mitarbeitern sind den
Gemeinden von Krummhörn in Ostfriesland gewidmet. Das Gebiet besteht aus 32
Kirchspielen mit einer durchschnittlichen Bevölkerung von etwa 14 000 Personen.
1812, als Ostfriesland ein Teil Frankreichs war, wurde eine Liste der 300 wohlhabendsten Männer von Ostfriesland aufgestellt, wovon
83 aus dem Gebiet Krummhörn waren. Diese „Elite“ umfaßte (nach Klindworth und Voland 1995) 2,3%
aller verheirateten Männer. In biologisch abgeschlossenen Ehen hatte die Elite
im Mittel 6,5 lebende Geburten, die anderen nur 4,4. Von der Elite heirateten
3,1 Kinder, von den anderen 1,9. Bemerkenswert war, daß bei der Elite in diesem
Raum die Säuglings- und Kindersterblichkeit gegenüber der anderen Bevölkerung
leicht erhöht war. „Ein wohlhabendes
Bauernpaar der Heiratskohorte 1720-1749 hinterließ 100 Jahre nach seiner
Hochzeit durchschnittlich fast doppelt soviele Genreplikate in der lokalen Population wie eine
durchschnittliche Familie. Die unmittelbaren proximaten
Gründe für diesen Unterschied lagen in einer erhöhten Kinderzahl der Reichen
sowie in den verbesserten sozialen Chancen ihrer Kinder. ... Mit 83,8%
Wahrscheinlichkeit erlebte eine lebend geborene Großbauerntocher
ihren 15. Geburtstag und erzielte damit einen signifikant höheren Wert als die
Töchter der Kleinbauern und der Besitzlosen, vor allem aber auch als die Söhne
der Großbauern. Im deutlichen Gegensatz zu den klein- und unterbäuerlichen
Familien investierten also Großbauern mehr in das Leben ihrer Töchter als in
das Leben ihrer Söhne. ... Während in der Gruppe der Besitzlosen keine
signifikanten Unterschiede in den vitalstatistischen Biographien von Söhnen und
Töchtern zu beobachten sind, gab es solche sehr wohl bei den Bauern, denn
Großbauernsöhne blieben häufiger ledig, heirateten mit geringerer und
emigrierten mit größerer Wahrscheinlichkeit als ihre Schwestern und übrigens
auch als ihre unterbäuerlichen Geschlechtsgenossen. Die Heiratschancen in
Krummhörn waren keineswegs gleichverteilt, sondern bevorteilten
deutlich die Bauerntöchter und benachteiligten deren Brüder. ... Offensichtlich
blieben einige Männer eher ledig, als daß sie eine Statusreduktion in Kauf
genommen hätten, während die Großbauerntöchter eher bereit waren, einen mit der
Eheschließung verbundenen sozialen Abstieg zu tolerieren. ... Eine Vermehrung
der Bauernstellen ohne Besitzreduktion war aus räumlichen Gründen nicht möglich,“ stellt Engel
(1990) fest.
Stephan (1993)
untersuchte von 1655-1895 die Sterblichkeit in Ditfurt
bei Quedlinburg. Bemerkenswert ist die Zunahme der Säuglingssterblichkeit (von
14% auf 22%) im Laufe dieser 240 Jahre (mit nur leichten sozialen
Unterschieden, d.h. bei Ackermännern immer am niedrigsten und stets unter 18%).
„Allgemein ... kann festgestellt werden,
daß sich das Sterberisiko für die Säuglinge wesentlich erhöhte, wenn die Mütter
während der Vegetationsperiode Feldarbeiten verrichten mußten: Ließen sie die
Kinder zu Hause, wurde der Stillrhythmus empfindlich gestört, nahmen sie die
Säuglinge mit aufs Feld, drohten andere Gefahren (z.B. Erkältungen). ... Erst
nach 1900 sank in Ditfurt die Säuglingssterblichkeit
merklich. ... Bei Landwirten mit eigenem, größerem Besitz, d.h. bei
Ackermännern, war die Säuglingssterblichkeit über Jahrhunderte mittelmäßig hoch
und der Grund der stets vorhandenen und gleichbleibenden Belastung der Mütter
bemerkenswert konstant. Bei den sozial schwächeren Familien, bei den Arbeitern
war sie ebenso gleichbleibend, aber merklich höher. Nur bei Kleinbauern (Kossathen) und Handwerkern stieg sie von 1655 bis 1894 von einem anfangs relativ niedrigen Niveau auf Höchstwerte. Gerade das waren die Bevölkerungsgruppen, die von feudaler Abhängigkeit und damit entsprechend geringerem Einsatz zu eigenem Besitz mit hohem Engagement kamen, bei denen auf Grund ihres geringen Besitzes die Frauen und auch die Mütter mit Kleinkindern voll mitarbeiten mußten. Nach dem 30jährigen Krieg hatte Ditfurt nur noch etwa 600 Einwohner, um 1800 die dreifache
Zahl. „Zu Beginn des 19. Jahrhunderts
herrschte demnach Ressourcenmangel ... . In dieser
Situation war eine Reduzierung der Anzahl der Nachkommen von Vorteil und diente
ebenfalls der Fitneßmaximierung. ... Die Kossathen
hatten im Zeitraum 1655 bis 1684 6,3 Lebendgeborene/Familien, bei einer
Säuglingssterblichkeit von 14,2% überstanden 5,4 Kinder das erste Lebensjahr;
im Zeitraum von 1805 bis 1834 wurden 3,7 Kinder/Kossathenfamilie
geboren, bei einer Säuglingssterblichkeit von 20,2% wurden 3,0 Kinder ein Jahr
alt. ... Ackermänner besaßen bis ins 19. Jahrhundert hinein stets die meisten
Kinder (z.B. 1655 bis 1684 Ackermänner 9,3 Kinder, Kossathen
6,7, Handwerker 5,2; 1745 bis 1774 Ackermänner 5,4, Kossathen
3,7, Handwerker 4,3, Arbeiter 4,7 Kinder). Erst im 19. Jahrhundert kehren sich
die Proportionen um (z.B. 1865 bis 1894 Ackermänner 3,8 Kinder, Kossathen 4,4, Handwerker 4,0, Arbeiter 4,2). In dieser
Zeit begann bei einem großen Teil der Bevölkerung, eine bewußte Beschränkung
der Geburten üblich zu werden. ... In jedem Fall besaßen die Nachkommen aus
kinderreichen Familien eine geringere Lebenserwartung als Nachkommen aus
kinderarmen (die Differenzen liegen zwischen 4 und 7 Jahren). Daraus kann man
schließen, daß neben der sozioökonomischen Stellung des Vaters und davon
unabhängig die Belastung der Mutter eine große Rolle gespielt hat. ... Je ärmer
die Familien und je höher die Belastung der Mütter, um so geringer war die
Lebenserwartung der Kinder. ... Eine ... aus Not- und Zwangslagen entstandene
differentielle Sterblichkeit innerhalb der Geburtenrangfolge ist bei
verschiedenen, insbesondere bei kinderreichen Familien in Ditfurt
zu erkennen: Nachdem das erste und/oder zweite Kind das Säuglingsalter bzw. die
ersten Lebensjahre überstanden hat, wechselten die nachfolgenden Kinder in
ihrer Lebenserwartung vom Sterben im jüngsten Alter mit Erreichen des
Erwachsenenalters stereotyp ab (z.B. drittes Kind starb als Säugling, viertes
Kind wird erwachsen, fünftes Kind stirbt wieder sehr jung, sechstes Kind wird
erwachsen usw.). ... Von besonderer Aussagekraft sind Daten zur Sterblichkeit
der Kinder nach dem Tode der Mutter: Wenn der Vater unverheiratet blieb,
starben rund 100 von 1000 Nachkommen; heiratete der Vater ein zweites Mal,
starben bis zu ihrem 15. Geburtstag rund 130 von 1000 Kindern. Hierdurch wird
erkennbar, welche Folgen Aufzucht und Pflege durch eine Stiefmutter hatten. Zu
beobachten ist dabei, daß die eigenen Kinder der zweiten Frau erheblich bessere
Überlebenschancen besaßen als die Stiefkinder. ... Sterblichkeit und
Lebenserwartung der eigenen Kinder der zweiten Frau fällt nicht aus dem Rahmen
und entspricht weitgehend den normalen kinderreichen Familien. Nur die
Stiefkinder besaßen eine deutlich niedrigere Lebenserwartung (Differenz um 5
Jahre ...), und die Sterblichkeit der Kinder differierte um 5,2%.“
Vieles, was wir in
diese Übersicht hier übernehmen können, hat nur den Charakter von Kostproben,
die Appetit auf die Originalarbeiten machen sollen, die viel reichhaltiger und
differenzierter sind, als sich hier wiedergeben läßt. Manche Arbeit hätte sich
ebensogut unter einer anderen Zwischenüberschrift einordnen lassen. Es war
nicht immer leicht, aus den verschiedenen Arbeiten besonders originelle Fragen,
Antworten oder Methoden herauszufinden, und es mag auch nur teilweise gelungen
sein. Ergebnisse wurden insbesondere dann bei verschiedenen Autoren zitiert,
wenn sie weitverbreiteten Auffassungen entgegenstehen. Es ist aber sicher auch
deutlich geworden, daß die Forscher, obwohl sie von verschiedenen
Ausgangspunkten und Zielen an familienweise
Dorfuntersuchungen herangehen, dennoch Berührungspunkte haben und auch zu
gemeinsamen Diskussionen zusammenfinden, so wie sie seit 4 Jahren im
Arbeitskreis Historische Demographie der Deutschen Gesellschaft für
Bevölkerungswissenschaft stattfinden. Ob Mikrohistoriker oder Soziobiologe, die Frage z.B., ob es
soziale Unterschiede bei den Kinderzahlen gibt, interessiert alle und verlangt eine Quellenaufbereitung des Ortsfamilienbuches in einer Form, bei der Beruf und sozialer Stand feststellbar sind.
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