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Text aus: Weiss, Volkmar und Katja Münchow: Ortsfamilienbücher mit Standort Leipzig in Deutscher Bücherei und Deutscher Zentralstelle für Genealogie. 2. Auflage. Neustadt/Aisch: Degener 1998, S. 93-97

5. Medizinische Fragestellungen und Inzucht

Aus der Theorie der Populationsgenetik und medizinstatistischen Beobachtungen ergeben sich eine Reihe weiterer Forschungsansätze, die aus der Sicht des Historikers als inhaltlich exotisch eingestuft werden dürften, bei denen aber dessenungeachtet Ortsfamilienbücher bzw. ihre Vorstufen als Quellen herangezogen werden. Insbesondere in der Schweiz sind eine ganze Reihe humangenetischer Arbeiten durchgeführt und zumeist im „Archiv der Julius-Klaus-Stiftung für Vererbungsforschung, Sozialanthropologie und Rassenhygiene“ veröffentlicht worden, bei denen es z.B. um die Vererbung von Struma, Depression oder Schwachsinn geht (vgl. Müller 1933, Egenter 1934, Grob 1934, Eugster 1934, Hauser 1940, Gysi 1951), bei denen beobachtet oder vermutet worden war, daß diese Krankheit bei gehäuften Verwandtenehen, wie das in Gebirgsdörfern der Fall sein kann, dann auch gehäuft auftreten. Der Mann, der 33 Jahre lang diese Dorfforschung in den vermuteten Isolaten angeregt und koordiniert hat, war der Schweizer Humangenetiker Ernst G. Hanhart (geb. 1891), der 1956 darüber Bilanz zieht. Sind in einer Population rezessive Gene vorhanden, die in homozygotem Zustand zu Krankheiten führen, dann erhöht Inzucht die Krankheitshäufigkeit; gibt es derartige Gene nicht, dann hat Inzucht auch keine schädlichen Folgen. D.h., Inzucht allein führt nicht zu negativen Erscheinungen - das ist das Ergebnis dieser Forschungen.

Ein klassischer Fall, wie sich Vorurteil, richtige Beobachtungen und Zahlen und vom Zeitgeist geprägtes politisches Urteil miteinander mischen können, ist die Arbeit von Brandsch (1940) über das Dorf Groß-Kopisch in Siebenbürgen.

Ein wichtiger Koeffizient, der bei diesen Forschungen immer wieder berechnet oder im statistischen Sinne geschätzt werden soll, ist der „Inzuchtkoeffizient“ F einer Gemeinde, der den mittleren Grad der genetischen Verwandtschaft in einer Bevölkerung mißt. Von unscharfen Vorstellungen und Messungen ausgehend (so bei Spindler 1922, Brenk 1931, Helming 1937, Doehner 1939, Lieske 1939, Schade 1962 und bei Scheidts Mitarbeiter Klenck 1942) ist - nach früheren Ansätzen auch im deutschen Sprachraum - erst 1965 durch die amerikanischen Anthropologen Crow und Mange (23) eine Lösung gefunden, die nicht nur mathematisch korrekt, sondern in Ortsfamilienbüchern zugleich auch meßbar ist. Crow und Mange konnten beweisen, daß der Prozentanteil der Heiraten, bei denen beide Partner bereits vor der Ehe den gleichen Familiennamen haben, einen sehr guten Schätzwert für F liefert, denn Cousins 1. Grades haben nur dann den gleichen Familiennamen, wenn sie über ihre Väter verwandt sind, d.h. zu einem Viertel verwandt sind, und dasselbe gilt prinzipiell auch für andere Verwandtschaftsgrade. Aus dem Prozentanteil I der gleichnamigen (isonymen) Heiraten läßt sich somit der Inzuchtkoeffizient nach der Formel F = I / 4 berechnen. Man kann den Prozentsatz der gleichnamigen Heiraten auszählen, man kann F aber auch aus den Familiennamenhäufigkeiten schätzen, indem man die Summe S aller quadrierten Familiennamenhäufigkeiten p durch 4 dividiert, also F = S p2 / 4, also praktisch die Wahrscheinlichkeit der Isonymie I berechnet und durch 4 dividiert. Amerikanische Forscher haben dann die neue Methode sehr rasch auch in den Alpen erprobt (Hussels 1969, Morton und Hussels 1970, Friedl 1974, Friedl und Ellis 1974, Ellis und Friedl 1976, Ellis und Starmer 1978), und Weiss (1974) hat die Isonymie in 7 gedruckten Ortssippenbüchern ausgezählt. Er fand dabei (siehe 1980), daß der gemessene Inzuchtkoeffizient in den untersuchten Dörfern bis in die erste Hälfte des 19. Jh. ständig ansteigt, ehe er dann mit der Erweiterung der Heiratskreise wieder sinkt. Weiss erweiterte dann die Methode, um auch den genetischen Verwandtschaftsgrad H bzw. den genetischen Abstand  zwischen zwei (oder mehreren) Dörfern a und b, zwei Teilbevölkerungen a und b, zwei Berufsgruppen oder auch nur zwei Personen aus den Familienhäufigkeiten messen zu können. Am anschaulichsten erwies sich dabei die Formel: H = 100S pa x pb / 2 (Fa + Fb). Zwei verglichene Populationen, in denen dieselben Familiennamen mit denselben prozentualen Häufigkeiten vorkommen, haben nach dieser Formel eine genetische Identität von 1, zwei Populationen mit völlig verschiedenen Familiennamen einen Wert von 0, d.h., die Formel weist den Prozentsatz der Gene aus, der seit der Zeit der Herausbildung der Familiennamen durch Abstammung gemeinsam ist (vgl. auch Michod und Hamilton, 24). (Denn die Formel ist praktisch nur eine Anwendung der bekannten Korrelationsformel  Kovarianz / Varianz.) Inhaltlich ergaben sich bei Anwendung der Methode im sächsischen Vogtland die folgenden Ergebnisse (Weiss 1974), wobei 1. und 2. trivial sind: 1. Die Höhe des Inzuchtkoeffizienten ist zur Einwohnerzahl einer Siedlung umgekehrt proportional. 2. Der genetische Abstand verringert sich mit dem geographischen Abstand. 3. Benachbarte Städte sind sich genetisch ähnlicher als eine der Städte mit einem ihr benachbarten Dorf. Die Unterschichten zweier benachbarter Städte sind sich genetisch ähnlicher als die Oberschichten. 5. Die Inzuchtkoeffizienten in Ober- und Unterschicht sind sich sehr ähnlich. Der räumlich viel größere Heiratskreis der Oberschicht, aber ihre geringe Personenzahl, führen zu diesem Ergebnis. Auch der Grad der Affinität von Dörfern zu ihren zentralen Orten (Städten) und ihre Veränderung in der Zeit läßt sich durch die Statistik der Familiennamenhäufigkeiten in Stadt und Land relativ leicht bearbeiten, auch für die einzelnen Sozialschichten gesondert.

Weiterführende Vorschläge von Weiss (25), auch für kulturelle, sprachliche oder sonstige Sachverhalte die Abstände zwischen den Populationen zu berechnen und sie mit den genetischen Abständen aus den Familiennamenhäufigkeiten und den geographischen Abständen in Beziehung zu setzen, sind bisher in Mitteleuropa nicht in Forschungen umgesetzt worden. „Nehmen wir an, für ein bestimmtes Gebiet, z.B. für das Vogtland, lägen zwei Untersuchungsergebnisse, zwei Datensätze vor: 1. Die Dialektverbreitung, quantitativ und detailliert, und 2. Die Familiennamenhäufigkeiten. Zwei relativ weit auseinander liegende Orte hätten auffallende Gemeinsamkeiten im Dialekt. Beide Orte hatten in der Vergangenheit, verursacht durch wirtschaftliche Gemeinsamkeiten, häufige soziale Kontakte, über Eheschließungen oder Bevölkerungsaustausch zwischen den beiden Orten lägen aber keine Daten vor. - Für die starke Ähnlichkeit oder Identität von Dialekten zwischen verschiedenen Orten gibt es prinzipiell zwei verschiedene Kausalmechanismen: 1. der Kontakt zwischen den Orten ist biologischer Art, der Dialekt wird durch Wanderung von Personen und Heirat weitergegeben, oder 2. der Kontakt ist rein sozialer Art (kulturell, wirtschaftlich, verwaltungsmäßig usw.), der Dialekt wird durch eine Art „Ansteckung“ weiterverbreitet, ohne daß „Mischehen“ stattfinden brauchen. In der Wirklichkeit werden beide Möglichkeiten mehr oder minder gemeinsam vorkommen, und es ist dann interessant, wie groß der relative Anteil der einen oder der anderen kausalen Erklärung in jedem konkreten Falle ist. Dialektverschiebungen können dann durch stärkere biologische Vermehrung (oder Wanderung) des einen Bevölkerungsteils oder durch dessen „soziales Übergewicht“ verursacht worden sein. Wohlbegründete Vermutungen und Spekulationen lassen sich in der Literatur leicht finden, quantitative und sogar untereinander vergleichbare Angaben sicher seltener. - So gesehen ist die Fragestellung noch relativ einfach. Die soziale und sprachliche Wirklichkeit ist komplizierter: Familiennamenhäufigkeiten und Dialektverbreitung bzw. umgangssprachliche Formen sind nicht nur im geographischen Raum, sondern auch in der Zeit und vor allem in der sozialen Dimension differenziert; die sozialen Klassen und Schichten unterscheiden sich nachgewiesenermaßen sprachlich und in den Familiennamenhäufigkeiten, und diese Unterschiede unterliegen historischen Veränderungen. Aus dieser Sachlage ergibt sich, daß diese Fragestellung mehrere Disziplinen betrifft: die Linguistik, die Sozial-, Wirtschafts- und Bevölkerungsgeschichte, einschließlich der Genealogie, die Soziologie, z.B. die Forschungen über die Soziale Mobilität und die Sprachsoziologie, die Geographie mit der Theorie der zentralen Orte - oft zugleich auch sprachliche Zentren - und der Diffusionstheorie, d.h. der Theorie von der Ausbreitung von Neuerungen und damit auch Namen.“  Es folgt dann eine Diskussion von erhebungsmethodischen Problemen solcher Forschungen.

Es gibt dabei durchaus überraschende Fragestellungen: „Beispielsweise konnte die Sachkulturforschung des Cloppenburger Museums in Niedersachsen des öfteren entdecken, daß das Brautwagenmöbel bäuerlicher Schichten innerhalb einer Kirchspielsregion in der Zeit von 1650 bis um etwa 1820 mehr oder minder ähnlich, fast wie genormt ausgestattet wurde. Der Grund wurde darin gefunden, daß in derselben Region die bäuerliche Bevölkerung fast zu neunzig Prozent in den Grenzen des jeweiligen Kirchspiels zu heiraten pflegte. Dies förderte ein engregionales Kulturmuster“ (26). Ein quantitativer Vergleich, lokal und überregional, wäre für diese Fragestellung auch durch die Berechnung der Inzuchtkoeffizienten möglich gewesen bzw. aus den Familiennamenhäufigkeiten.

Weiss (27) hat die Methode zur Berechnung des Inzuchtkoeffizienten und des Ähnlichkeitskoeffizienten H darüber hinaus dahingehend erweitert, daß der Koeffizient auch aus den Familiennamenhäufigkeiten der Vorfahren errechnet bzw. geschätzt werden kann. Sind z.B. die Familiennamen der 4 Großeltern (oder 16 Ururgroßeltern - je mehr Daten, desto genauer die Schätzung) bekannt, dann kann man diese 4 Namen in statistischer Analogie zu den Formeln oben so betrachten, als wären es 4 Namen in einem Ort. Daraus kann man dann sowohl den Inzuchtgrad einer Person, einer Personengruppe als auch die genetische Ähnlichkeit zwischen Personen und Personengruppen, also etwa zwischen den verschiedenen Handwerkerzünften einer Stadt oder mehrerer Städte errechnen.

Während die Verwendung von Familiennamenhäufigkeiten für Forschungszwecke in Mitteleuropa z.Z. keine Rolle spielt, ist seit 1980 die Entwicklung international weitergegangen und auf der Tagung der „Société de Démographie Historique“ im November 1996 in Paris war ein ganzer Tag dieser Problematik gewidmet.

 

Bei Weiss (1980) findet sich ferner ein Vorschlag, die Darwinsche Fitness aus den Zahlen der lebenden Verwandten zu errechnen. Leben z.B. von einer definierten Probandengruppe A zu einem bestimmten Zeitpunkt 100 Onkel und Tanten, 264 Cousins und Cousinen 1. Grades, 30 Geschwister und 76 Neffen und Nichten, dann ist:

A = 100/4 + 264/8 + 30/2 + 76/4 = 92.

Von der Probandengruppe B leben zur selben Zeit:  96 Onkel und Tanten, 312 Cousins und Cousinen 1. Grades, 40 Geschwister und 102 Neffen und Nichten. Dann folgt:

B = 96/4 + 312/8 + 40/2 + 102/4 = 108,5.

Die relative Darwinsche Fitness von A : B ist folglich 92 : 108,5 bzw. 0,85 : 1,00.

 

Die schon von Weinberg (1907) in Württemberg begonnene Verwendung von kompletten Familienunterlagen gehört heute weltweit zu den Standardmethoden der Humangenetik. In Deutschland hat sich der Datenschutz so ausgewirkt, daß derartige Forschungen nur noch sehr schwer möglich bzw. repräsentative Untersuchungen praktisch unmöglich geworden sind. Untersuchungen an sehr gut dokumentierten und in sich stark abgeschlossenen Bevölkerungen sind z.B. auf den zu Finnland gehörenden Alandsinseln mit ihrer schwedischen Tradition, in Island (wo praktisch die gesamte Bevölkerung in einem nationalen Familienbuch erfaßt ist und die Fälle von psychiatrischen Erkrankungen, Selbstmorden usw. sehr gut dokumentiert sind) und bei den kinderreichen Hutteriten in Nordamerika durchgeführt worden. Auch neueste molekulargenetische Forschungen bedürfen zur Lokalisierung von Genen genauer Familienunterlagen. So wurde jetzt ein Gen der Alzheimer-Erkrankung in Familien bzw. Siedlungen von wolgadeutschen Auswanderern in den USA entdeckt.

Das Familienbuch der Stadt Kastellaun (vgl. auch Saunders 1995) stellt eine Besonderheit dar, „denn es enthält nicht nur Lebensdaten und Berufsangaben der Einwohner dieser ländlichen Kleinstadt über einen Zeitraum von 230 Jahren ..., sondern vor allem Hinweise auf Krankheiten und Todesursachen der Bürger“. Többen (1995) wertete dieses Familienbuch in einer medizinhistorischen Dissertation   aus und stellte fest: „Mit 156 erwähnten unterschiedlichen Krankheitsbezeichnungen, die wiederum durch mehr oder minder ausführliche zusätzliche Angaben Hinweise auf  spezifische Erkrankungen und Krankheitsverläufe geben, zeigt sich eine erstaunliche Vielfalt von Krankheitsbildern. ... Die nach dem Sterberegister 1714-1798 ermittelte Sterblichkeit nach Krankheitsgruppen zeigt, daß die meisten Menschen damals den großen Epidemien mit zusammen 25,9% (Pocken = 15,7%, Ruhr = 5,3%, Typhus = 4,9%) zum Opfer gefallen sind.“

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