Zur Stellung der Genealogie in der wissenschaftlichen Forschung.
Der folgende Text aus: Weiss, Volkmar: Die IQ-Falle: Intelligenz, Sozialstruktur und Politik. Graz: Leopold Stocker 2000, S. 47ff.
Auch die soziale Oberschicht des 16., 17. und 18. Jahrhunderts,
insbesondere das sogenannte Besitz- und Bildungsbürgertum, war charakterisiert
durch Reichtum, Bildung und Macht, war aber in gewisser Hinsicht auch bereits
eine Intellektuelle Elite. Am interessanten in dieser Beziehung ist jedoch die
soziale Gruppe der besitzlosen Intellektuellen (d.h. der Schicht der mittleren
Beamten und Angestellten, der Lehrer und Schreiber), denn bei ihnen handelt es
sich um eine Art Intellektuelle Elite im status nascendi. In Sachsen, wo bereits damals ein Drittel aller Einwohner in Städten lebte, wuchs diese Schicht von 3% der städtischen Bevölkerung um 1615 auf 12% um 1870 an, mit einem steilen Anstieg von 5% auf 10% bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bei der Landbevölkerung nahm der Anteil dieser Geschulten (sowohl in leitenden als auch in untergeordneten Stellungen, dabei Gutsverwalter, Schulmeister, Förster, Pfarrer und Kantoren einschließend) von 2% um 1595 auf 5% in 1870 zu. Von Anfang zeichnete sich diese Berufsgruppe durch eine einzigartige soziale Mobilität aus. Die persönliche Entscheidung, die eigene Chance zu suchen und dank einer überdurchschnittlichen intellektuellen Begabung seinen eigenen Weg zu finden, spielte bei diesen Geschulten eine besondere Rolle. Während bei allen anderen sozialen Klassen und Schichten die Söhne zu 70 - 90% aus derselben sozialen Schicht stammten, waren es beim Besitz- und Bildungsbürgertum der Städte nur 50%, bei der Zwischenschicht der besitzlosen Intellektuellen der Städte stets gar nur 20%. Das ist ein extrem niedriger Prozentsatz, der in lebhaftem Kontrast zu allen anderen Zahlen steht. Die Leute, die nur ihren klugen Kopf hatten und sonst nichts weiter, kamen stets, d.h. in jeder Generation erneut, zu 30% bis 50% direkt vom Lande, waren Söhne von Schulmeistern und Pfarrern, aber auch von Bauern und Landhandwerkern. Ihre Frau brachten sie nur selten vom Lande mit. Auf dem städtischen Heiratsmarkt hatten sie aber wenig zu bieten und viele heirateten deshalb Töchter mit geringer Mitgift aus dem städtischen Handwerk oder die Tochter eines besitzlosen Intellektuellen, der schon in der Stadt wohnte. Aber sie müssen Wert darauf gelegt haben, daß ihr
Braut, wenn schon nicht reich, dann aber wenigstens nicht dumm war. Denn nur
durch eine solche Heiratsstrategie läßt sich der oft folgende soziale Aufstieg
erklären. Bereits in der folgenden Generation stiegen von den Söhnen der
besitzlosen Intellektuellen bis zu einem Drittel ins Besitz- und
Bildungsbürgertum auf, entweder durch eigenen Verdienst oder durch eine
entsprechende Heirat oder durch beides kombiniert. Da die soziale Schicht der
besitzlosen Intellektuellen zahlenmäßig anwuchs, konnte etwa ein Drittel der
Söhne in solchen oder ähnlichen Stellungen wir ihre Väter verbleiben und die
Enkel hatten dann in der nächsten Generation eine erneute Aufstiegschance.
Besonders in der Zeit des Barock war es allgemein üblich, daß in den
Eintragungen der Kirchenbücher bei Taufen, Trauungen und Todesfällen ein Teil
der Männer als „Herr“ oder „ehrenwerter Herr“ tituliert wurde, der größere Teil
aber nicht. Obwohl ein Zusammenhang mit gehobener sozialer Stellung augenfällig
war, war selbst für Fachleute der Sozialgeschichte bisher unklar, welches
System damals hinter diesen Titulierungen steckte. In einer Untersuchung, die
für das 17. und 18. Jh. in Württemberg (Gebhardt 1998) durchgeführt worden ist,
konnte nun herausgefunden und eindeutig belegt werden, daß alle Berufe, die schreibend
tätig waren, damals mit „Herr“ tituliert wurden und damit alle, die eine Lateinschule mit hinreichendem Erfolg besucht hatten. Damit wird klar, warum, abgesehen vom Adel (dem der Titel im Frühmittelalter ja allein vorbehalten war), nicht nur Hofbedienstete, Akademiker, Beamte und Offiziere Herren waren, sondern auch die Buchhändler, Buchdrucker, Apotheker, Kaufleute, die Gerichts- und Ratsverwandten, alle Schreiber und Sekretäre und ein Teil der erfolgreichen und qualifizierten Handwerksmeister. Zum erstenmal in der Geschichte ist damit eine Gemeinsamkeit, die wir heute in Bezug zu Intelligenz setzen würden, durch eine gemeinsame Titulierung erfaßt worden, die nicht nur das Besitz- und Bildungsbürgertum erfaßte, sondern auch die Schicht der besitzlosen Intellektuellen, und damit beginnt eine Wertschätzung von Bildung und geistiger Leistung, die die bis dahin festgeschriebene feudale Rangordnung zu durchkreuzen beginnt. Um der bereits im 18. Jahrhundert erkennbaren Tendenz zur Bildungs- und Titelinflation entgegenzuwirken (heute wäre ja inzwischen schon der Dümmste beleidigt, wenn er nicht mit Herr angesprochen würde), sah sich der württembergische Herzog 1789 genötigt, restriktive Bestimmungen zu erlassen. Es sei beobachtet worden, daß „besonders die Vermöglichere
aus den arbeitenden Volksklassen durch den Reiz höherer Ehrenstellen, oder
einer gemächlicheren Lebensart verleitet, täglich häufiger ihren angeborenen
Stand verlassen, um sich dem Studiren, oder der Schreiberey zu widmen. Es sei des Herzogs
Regentenpflicht, „darüber zu wachen, daß
weder den ... Handwerkern und dem Landbau zu viele Hände und fähige Köpfe
entzogen, noch auch die Stände der Gelehrten und Schreiber durch einen allzugroßen Zuwachs minder fähiger oder gar untüchtiger
Leute übersezt werden. Es wird deshalb
verordnet, daß „künftig schon in den
Schulen, Klöstern und Gymnasien strenge Prüfungen über die dem gelehrten Stand
und der Schreiberey gewidmete Subjecte veranstaltet werden, und „wenn sie
keine keine vorzüglichen Gaben und Geschicklichkeit ... zeigen“, diese davon abgehalten werden sollen, dies soll auch für „Honorationes, deren Söhne nicht die erforderliche Tüchtigkeit besitzen“, gelten (zitiert
nach Gebhardt 1988, S. 98).
Die Söhne und Töchter des
Besitz- und Bildungsbürgertums, die nicht mehr als 10% der gesamten
Stadtbevölkerung ausmachten, heirateten niemals Söhne und Töchter der
Unterschicht (mit Ausnahme der eben genannten besitzlosen Intellektuellen). So
brauchte die soziale Mobilität von einem Ende der sozialen Skala zum anderen,
vermittelt durch eine Heirat oder den sozialen Auf- und Abstieg auf eine
mittlere soziale Position, wiederum mindestens zwei Generationen. Auch die
Landbevölkerung war, ganz abgesehen vom Adel, in hohem Maße sozial strukturiert
und gliederte sich in Vollbauern, Kleinbauern und landlose oder landarme
Häusler und Hausgenossen. (In verschiedenen Gebieten des deutschen
Sprachgebietes waren verschiedene Bezeichnungen für diese sozialen Schichten
üblich, aber die Struktur läuft fast stets auf diese Dreigliederung hinaus.)
Zwischen diesen Schichten gab es ein festes Muster von Heiratsbeziehungen, das
Verbindungen zwischen Vollbauern und Häuslern praktisch ausschloß. Wir hatten
das vorhin mit der Arbeit von Hanke (1969) schon ausreichend belegt. Für einen
erbenden Bauernsohn hätte ein solche Heirat die wirtschaftliche Grundlage seines Hofes gefährdet. Es ist sicher richtig, daß solche Verhaltensmuster primär nichts mit dem IQ der betreffenden Personen zu tun hatten. Doch konnte in einer Studie in Sachsen gezeigt werden, daß in einem Dorf (Herzog 1984) zwischen 1700 und 1799 die 4,6 Kinder von Vollbauern (das ist das Mittel über alle Ehen) insgesamt Kopf 612 Gulden erbten. Das sind 133 Gulden pro Kind. Die 3,3 Kinder von Häuslern erbten zusammen 77 Gulden, also nur 23 Gulden pro Kopf. Die 5,4 Kinder der Müller erbten hingegen 2165 Gulden, also 401 Gulden pro Kopf. Solche Unterschiede hatten für die Heiratschancen der Kinder große Bedeutung. Herrnstein und Murray
scheinen aus ihrer nordamerikanischen Perspektive die Möglichkeiten des
sozialen Auf- und Abstiegs durch persönliche Verdienste und Leistungen in
traditionellen Gesellschaften grob zu unterschätzen. Auch im 16. oder 18.
Jahrhundert war es einem kleinen Prozentanteil von Personen möglich, ihre
Tätigkeiten im Laufe des Arbeitslebens mehrfach zu wechseln. Selbst Bauern
konnten Höfe kaufen und verkaufen und damit spekulieren.