Historical Social Research 21 (1996) 151-166

 Familiengeschichtliche Massenquellen der Mobilitäts- und Sozialstrukturforschung

 

Volkmar Weiss

 

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 Abstract: Contemporary social researchers can ask a representative sample of the population about their parents` occupation and their own occupational experiences and geographical mobility. Historians have no such living ´documents´ to interrogate and have to find a substitute for the researcher`s questionnaire and interview. One such substitute exists in both the family reconstitutions and lineages written and collected by genealogists. However, their use raises serious methodological considerations. In order to take full advantage of the the longitudinal character of genealogies in a systematic fashion, French and German historians have drawn representative samples from such sources. In such a way substantial progress has been made in studying geographical and vertical mobility in a historical context.

 

1.  Einleitung

     Während die kasuistische Betrachtung von Familiengeschichten in romanhafter oder wissenschaftlicher Form [1] schon seit langem zum bewährten Repertoire der Sozialgeschichte gehört, sind statistische Analysen von familiengeschichtlichen Quellen bis in die unmittelbare Gegenwart nicht durchgeführt worden, weil das Material schon von seiner Entstehung her als ausgelesen galt und damit als nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Während diese Einschätzung der Nicht-Repräsentativität zwar prinzipiell richtig ist, so haben sich in den letzten Jahren durch die geschickte Anwendung und Kombinierung von in der Soziologie bewährten Auswahlverfahren neue und überraschende Perspektiven ergeben, die im folgenden vorgestellt und diskutiert werden sollen. Neben den schon weithin bekannten Forschungen in der Historischen Demographie, die auf derartigen Quellen [2] beruhen, geht es uns dabei hier vor allem um Anwendungen in der Mobilitäts- und Sozialstrukturforschung.

     Untersuchungen zur sozialen und regionalen Herkunft setzen stets Massendaten über den Zusammenhang zwischen zwei Generationen, Kindern und ihren Eltern, voraus. Daß auf der Grundlage von familiengeschichtlichen Materialien landesweite Untersuchungen möglich sind, dürfte als erster Köllmann [3] erkannt haben, als er schrieb: "Das von Genealogen erarbeitete Datenmaterial bietet sich für eine systematische, auf Strukturen und Prozesse der Strukturveränderung gerichtete Auswertung geradezu an." Als Laienforscher haben die Genealogen - in der Regel Personen mit Fach- oder Hochschulbildung aller erdenklichen Fachrichtungen, nur wenige sind ausgebildete Historiker oder Archivare - Arbeitsvorschriften und Gütekriterien enwickelt [4] , die meist auch strengen wissenschaftlichen Maßstäben genügen [5] . Genealogen stellen aus den Primärquellen in aufwendiger Kleinarbeit, oft als Lebensarbeit, Ahnenlisten (AL), Ahnentafeln, Stammtafeln, Nachkommenlisten und Ortsfamilienbücher (OFB) zusammen, die mit ihrer eigenen Person bzw. ihrem Heimatort in Beziehung stehen, gelegentlich auch mit bestimmten historischen Persönlichkeiten. Wir wollen diese Quellengruppen und ihre Vor- und Nachteile für wissenschaftliche Fragestellungen im übernächsten Punkt näher betrachten.

 

2. Sozialgeschichte mit primären Massenquellen, die nicht von Genealogen aufbereitet worden sind

     Wenn man bisher Soziale Mobilität erfaßt hat, dann meist nur lokal und oft auf der Grundlage von Traubüchern [6] , mit dem bekannten Nachteil, daß zum Zeitpunkt der Trauung die berufliche Laufbahn oft noch längst nicht abgeschlossen ist und die Ergebnisse deshalb mehr oder weniger verzerrt sind. Zwar gibt es auch lokale und regionale historische Einzeluntersuchungen [7] , die auf umfassenderen Quellen beruhen, oder Arbeiten, die mehr auf der Betrachtung von Einzelfällen beruhen als auf einer statistischen Auswertung [8] , doch gibt es repräsentative Analysen nur für soziale Kategorien wie etwa für Pfarrer [9] und Adel [10] , für die es bereits spezielle Quellenaufbereitungen gibt, wie etwa für die Pfarrer die Pfarrerbücher ganzer Länder, die dann insgesamt ausgewertet werden und dann durch diese angestrebte Totalerfassung aller Pfarrer zwangsläufig auch repräsentativ sind. Während für die unmittelbare Vergangenheit und zurück bis etwa 1880/1900 die Erforschung der Sozialen Mobilität, etwa durch Befragen Lebender oder Dokumentenanalyse, ein bevorzugter Gegenstand der Soziologie ist (auf Literaturhinweise kann an dieser Stelle verzichtet werden), werden weiter zurück verläßliche Zahlen immer seltener. Kaelble, der den Forschungsstand kritisch beleuchtete, mußte deshalb feststellen [11] : "Die wichtigste Einschränkung ist dabei, daß nicht ganze Länder, sondern nur lokale ... Gesellschaften verglichen werden können. Wahrscheinlich wird dies für die soziale Mobilität im 19. Jahrhundert niemals anders möglich sein, da es für repräsentative, flächendeckende Studien zu ganzen Ländern in finanzierbarem Rahmen keine geeigneten Materialien gibt." Als diese Sätze gedruckt worden sind, also 1983, wurden aber derartige flächendeckende historische Studien - wir kommen darauf zurück - auf der Grundlage von familiengeschichtlichen Massenquellen gerade in Gang [12] gesetzt.

      Eine weitere wegen ihrer raschen Auswertungsmöglichkeit bei Historikern beliebte Quelle sind Steuerlisten und Einwohnerverzeichnisse. Vor allem dann, wenn sie nicht nur Namen, Stand und Steuerveranlagung enthalten, sondern auch alle Einwohner mit Hausnummer, Alter, Beruf und Namen und verwandtschaftlicher Stellung zueinander aufführen. Gibt es derartige nahezu vollständige Listen für aufeinanderfolgende Zeitpunkte, so läßt sich durch deren Vergleich schon Mobilität erschließen, bei einem einzigen Zeitpunkt schon die Struktur der Haushalte und der Berufe.

     1988 in Eisenach auf der 4. Tagung der Fachkommission Regionalgeschichte (der DDR) kam es zu einer Diskussion zwischen J. Ehmer und J. Wilke. Ehmer hatte über "Regionale Typen der Familien- und Haushaltsstruktur in Europa um 1800" referiert und war so vorgegangen, wie bisher in der Geschichtsforschung allgemein üblich: Aus dem gesamten Untersuchungsgebiet wurden Einzelbefunde angeführt, die alle getrennt entstanden waren. Ehmers verallgemeinerte diese Einzelbefunde durch einfache Summierung. Auf Wilkes Einwand, daß diese Einzeluntersuchungen (manchmal für ein ganzes Land nur eine einzige; manchmal, wie für Österreich, viele) keine repräsentativen Zufallsstichproben darstellten, die derartige Verallgemeinerungen rechtfertigten, erwiderte Ehmer jedoch, daß die Einzeluntersuchungen alle zufällig entstanden seien. Wenige Zuhörer dieser Diskussion in Eisenach schienen sich der Tatsache bewußt zu sein, daß Wilke ein Problem von grundlegender Bedeutung angesprochen hatte, daß wir hier später noch diskutieren werden.

    Weitere geeignete Quellen, aber schon viel schwerer quantitativ auszuwerten, sind Kaufbücher (Gerichtshandelsbücher) und Leichenpredigten. In den Kaufbüchern fehlen die Besitzlosen, ebenso wie die Leichenpredigten sozial sehr selektiv sind und in den gedruckten Materialien die Unterschicht völlig fehlt. Jedoch gibt es allein im mitteldeutschen Raum mindestens 50 Orte (Dörfer und Städte), in denen jeweils über mehrere Jahrzehnte vom 17.-19. Jahrhundert von den Pfarrern ausführliche Lebensläufe (in Form von Leichenpredigten) aller Einwohner geschrieben und gesammelt worden sind. Wer wird das Projekt einreichen, um aus diesen Lebensläufen eine repräsentative Auswahl auszuwerten und zu veröffentlichen?

 

3. Von den Genealogen aufbereitete familiengeschichtliche Massenquellen

3.1. Ahnenlisten und Ahnentafeln

     Ahnenlisten (AL) enthalten die Vorfahren eines Probanden. Bereits 1921 unternahm Karl Förster Schritte zur Gründung einer "Deutschen Ahnengemeinschaft" und begann AL zu sammeln [13] . Die Numerierung der heute in der Deutschen Zentralstelle für Genealogie in Leipzig archivierten AL überschreitet die Zahl 12 000, von denen 7 000 tatsächlich verfügbar sind. Die Zahl der davon wissenschaftlich verwertbaren AL ist zwar deutlich geringer, aber so groß, daß für die meisten deutschsprachigen Territorien genügend Daten für repräsentative Erhebungen vorhanden sein dürften.

    Als 1982 die Untersuchungen zu Sachsen begannen, gab es in der Zentralstelle keinerlei detailliertes Material über Umfang, Qualität und regionale Zuordnung der vorhandenen AL. Inzwischen liegen derartige Dateien [14] vor, und die Untersucher, die eine repräsentative Vergleichsuntersuchung etwa über Württemberg, Holstein oder Schlesien oder für ein Ensemble ausgewählter Städte machen wollen, könnten sich das eine Arbeitsjahr ersparen, das allein für Sachsen zur Datenerschließung notwendig war.

     Der Umfang der gesammelten AL schwankt von zwei Schreibmaschinenseiten bis zu mehrbändigen Arbeiten, in denen Daten über jeweils Tausende von Vorfahren enthalten sind. Ein Proband, 1944 geboren wie der Verfasser, hat Ausgang des Dreißigjährigen Krieges, in seiner 10. Vorfahrengeneration also, bereits in dieser Generation 1024 Vorfahren, von denen in diesem Falle fast 700 bekannt sind [15] . Bei einem so umfangreichen Material sind in den weit zurückliegenden Generationen, die in Stichproben eingehen können, die jeweiligen Beziehungen in den sozialen Zuordnungen von Vätern und ihren Söhnen, etwa in der 8. und 9. Generation, weitgehend unabhängig von einem Probanden, der 200 oder 300 Jahre später lebt. Dennoch müssen mögliche Probleme für die Repräsentativität in jedem konkreten Falle ausreichend diskutiert werden [16] . Familiengeschichtliche Massenquellen, insbesondere AL, sind vorwiegend für verheiratete Männer im Alter von durchschnittlich 40 Jahren repräsentativ, d.h., junge, aber bereits im Arbeitsleben stehende Personen, wie Gesinde, Soldaten und Gesellen ohne Familie, lassen sich mit dieser Quellengrundlage in der Regel nicht fassen. Wenn wir wirtschaftliche und soziale Strukturen abbilden wollen, dann können wir es nur für etablierte Familien. Bettler und marginale Existenzen fehlen weitgehend.

    Galten um 1900 in der Anfangsphase der von Bürgern betriebenen Genealogie Beruf, Stand und die drei Hauptlebensdaten (Geburt, Heirat und Tod)  als Angaben für eine männliche Person für ausreichend, so enthalten heute die besten AL auch  Angaben zur steuerlichen Belastung und den Kauf- und Verkaufspreis der Häuser oder Bauerngüter, werten also neben den Kirchenbüchern noch andere Quellengruppen mit aus. Auch wenn sonst keine weiteren Angaben vorliegen, kann, wie bekannt, ein Kenner für eine bestimmte Region schon allein aus diesen Zahlen den sozialen Status der betreffenden Person erschließen. Besonders die Mehrfacherfassung der sozialen Stellung einer Person (bei seiner eigenen Heirat, bei der Geburt und der Heirat bei jedem seiner Kinder, bei seinem Tode und dem Tode seiner Ehefrau) macht Daten aus Genealogien so wertvoll für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, läßt sich doch so auch Berufswechsel belegen, wirtschaftlicher und regionaler Wandel und auch Wandel in den Begriffen und ihrer regionalen Verbreitung. Da Berufs- und Standesbezeichnungen und öffentliche Ämter in der Regel in AL originalgetreu wiedergegeben werden sollen, ergeben sich dadurch einzigartige Aussagemöglichkeiten. Es könnte sich z.B. jemand finden, der aus AL alle Synonyme für "Kleinbauer" im deutschen Sprachraum heraussucht und ihre Veränderung in Raum und Zeit kartographisch darstellt [17] .

      Der umfangreichste Speicher personenbezogener historischer Daten befindet sich zweifellos bei der Genealogischen Gesellschaft in Salt Lake City. Jedoch sind dort elektronisch nur die Hauptlebensdaten gespeichert, für die Sozialdaten muß man wieder in die verfilmten Quellen zurück. Doch ist mit den Filmen viel umständlicher zu arbeiten als mit den Originalen, was somit wieder die Sozialforschung erschwert.

 

3.2. Stammlisten und Stammtafeln sowie Nachfahrenlisten und Nachfahrentafeln

      Stammlisten und Stammtafeln enthalten die männlichen Nachfahren eines Probanden, Nachfahrenlisten alle Nachfahren.

      Das Aufstellen von Stammtafeln war die Hauptaufgabe der vor 1900 schon existierenden älteren Genealogie, die vor allem aus Rechtsansprüchen des Adels ihre Aufgaben bezog. Die einsetzende bürgerliche Genealogie sah ebenfalls eine ihrer Hauptaufgaben darin, Firmengründer und deren Familiennamen (d.h. deren Stamm) ins rechte Licht zu rücken. Derartige Materialien sind deshalb alles andere als für die Gesamtbevölkerung repräsentativ. Ausnahmen sind Nachfahrenlisten von Probanden, die vor Jahrhunderten gelebt haben, wie Martin Luther und Adam Ries. Die Nachfahren [18] des letzteren wären durchaus für eine repräsentative Sozialstatistik geeignet. Inzwischen gibt es aber auch bereits Stammlisten von mehreren hundert Familiennamen, deren Träger sozial wenig oder nicht herausragen und die sich ebenfalls für die Einbeziehung in Auswahlverfahren eignen. Es ist eine Besonderheit der Genealogie in Deutschland, ab 1920 den Schwerpunkt auf die Arbeit an AL gelegt zu haben. In den Niederlanden z.B. ist es umgekehrt: Es wurden und werden bis heute sehr viele Stammlisten verfaßt (und dort "genealogien" genannt), aber nur wenige AL.

      Einen Nachteil haben alle diese Arbeiten: Während bei AL die Zahl der Vorfahren exakt bekannt ist und ebenso die Lücken, kann bei Nachfahren niemand sagen, wieviele in den Listen fehlen, aus was für Gründen auch immer. Das gilt auch für die Stammlisten von ganzen Ortschaften, da ja immer ein Teil der Personen aus dem aus dem Untersuchungsgebiet mehr oder weniger selektiv heraus- oder hereinwandert. Hilft man sich mit der Annahme, daß die Wandernden von den Bleibenden nicht völlig verschieden sind, dann kommt man zu Statistiken, zu denen auch die klassischen Arbeit von Roller [19] gehört.

 

3.3. Familienchroniken

      Eine mit Fotos, Dokumenten, Biographien und anderen Zutaten angereicherte Kombination von AL und Nachfahrenlisten wollen wir als "Familienchronik" bezeichnen. Aus der Summe von 100 oder 1000 derartigen Chroniken kann und wird der Spezialist der Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte und vor allem der Volkskunde einmal Schlüsse ziehen, an die die wenigsten der ursprünglichen Verfasser der Chroniken gedacht haben dürften. Als Vorleistung für diese Forschungen braucht man eine Bibliographie bzw. eine Datenbank, die alle verfügbaren Familienchroniken nach einer noch zu erarbeitenden Typologie klassifiziert und so bereits eine wertende Vorauswahl ermöglicht. Wir haben in der Leipziger Zentralstelle diese Aufgabe begriffen, hatten aber dafür leider noch keine freie Arbeitskapazität.

 

3.4. Ortsfamilienbücher (Ortssippenbücher)

     Das erste Ortsfamilienbuch (OFB) brachte 1902 ein Kaplan [20] in Böhmen heraus, das erste in deutscher Sprache 1908 ein Bauer [21] in Ditfurt bei Quedlinburg. Nach 1920 wurden im deutschen Sprachraum mehr und mehr Kirchgemeinden auf Familienblätter verkartet und OFB gedruckt. 1937 wurde dann auf diese, anfangs und im Kern völlig unpolitische Arbeitsrichtung, die nationalsozialistische Blut-und-Boden-Ideologie aufgepfropft. In den Fünfziger Jahren begannen die deutschen Genealogen, inzwischen aller Ideologie entkleidet, an die Kirchenbuchverkartungen der Vorkriegszeit anzuknüpfen. Seit 1950 hat sich die Zahl der gedruckten Bücher in jeder Dekade verdoppelt. Wir in Leipzig [22] haben derzeit rund 1000 Titel.

      Mit der immer größer werdenden Zahl von OFB (derzeit erscheinen im deutschen Sprachraum bereits jährlich um 100 neue) wird es immer realistischer, von Totalauswertungen einzelner Orte zur Anwendung von Auswahlverfahren aus vielen Orten fortzuschreiten. Ja, wir können inzwischen schon 2 "Generationen" von OFB unterscheiden: Während in der 1. Generation in der Regel nur die Daten aus den Kirchenbüchern verwendet werden, wird eine 2. Generation die Totalität aller personenbezogenen Quellen [23] für einen Ort heranziehen und den Familien zuordnen.

 

4. Das Problem der Grundgesamtheit in der Historischen Familienforschung

     Korrekte Anwendung von Auswahlverfahren setzt in der Soziologie Grundkenntnisse über Einwohnerzahlen und ihre regionale und soziale Struktur voraus. Wer einmal ein regionales Volkszählungsbüro selbst geleitet hat, weiß, daß selbst in einem modernen Staatswesen eine mehr oder weniger große Zahl von Personen unauffindbar ist und somit auch die Grundgesamtheit, etwa eines Bundeslandes, in ihrer absoluten Größe nicht exakt definiert ist. Angesichts der Vertrauensgrenzen, die sich bei Stichproben ergeben, fällt dieser Fehler aber nicht ins Gewicht.

      Bei historischen Untersuchungen ist das grundsätzlich anders: Vor 1800 etwa müssen wir in Mitteleuropa fast stets davon ausgehen, daß sich die Größe der  Grundgesamtheit nur schätzen läßt und die für Auswahlverfahren notwendigen Kennziffern über die regionale und soziale Struktur nur teilweise bekannt sind. Alle im folgenden diskutierten Forschungsansätze sind deshalb als Näherungen zu verstehen, denen mehr oder weniger Plausibilität bei dem Streben nach gültigen Ergebnissen zukommt. Durch ihr systematisches Vorgehen unterscheiden sich die neueren von früheren Forschungsansätzen. Grundsätzlich ist auch bei historischem Material die einfache Zufallsauswahl denkbar, bei der jede Person gleichberechtigtes Teil der Grundgesamtheit ist; es sind geschichtete Auswahlen wie auch Auswahlen nach Klumpen oder Quoten denkbar wie auch sinnvolle Kombinationen der verschiedenen Verfahren. (Wir setzten hier die Terminologie der Auswahlverfahren [24] und ihre Probleme als bekannt voraus.)

     Schon wegen der selektiven Quellenverluste (niemals sind für ein Territorium alle Quellen vollständig erhalten) ist es in der Sozialgeschichte illusorisch, Zahlen mit einer Fehlergrenze, etwa für die soziale Herkunft irgendeiner sozialen Gruppe, von weniger als 2% erheben zu wollen. Darüber hinaus sind nach Wrigley und Schofield [25] in den englischen Kirchenbüchern von 1705-1750 etwa 1,5% aller Taufeintragungen, 2% aller Sterbeeintragungen und 4,5% aller Heiratseintragungen unterlassen worden; im 16. Jahrhundert gar 4%, 5% bzw. 12% bei den Heiraten. Wir müssen davon ausgehen, daß die Größenordnungen in Mitteleuropa ähnlich sind. Da der Historiker aber langfristige Trends analysiert, so ist ein Meßfehler, etwa für den Landhandwerkeranteil, von plus oder minus 2% für einen Einzelwert ziemlich bedeutungslos.

     Durch die starke Veränderlichkeit der Namen, insbesondere auch der Familiennamen, ist es oft schwierig oder unmöglich, alle Angaben einer Person oder der richtigen Person zuzuordnen. Nach englischen Untersuchungen [26] wurde z.B. vor 1650 in Traueinträgen jeder zweite Familienname beim nochmaligen Niederschreiben in einer anderen Variante gebraucht, zwischen 1700 und 1750 noch jeder zwölfte. Die Varianten sind dabei auch im deutschen Sprachraum in manchen Fällen so stark unterschiedlich (wie z.B. Ruhdorff/Rudroff/Rudolph), daß diese Veränderlichkeit der Familiennamen bislang ein Haupthindernis für die Verwaltung von historischen Personendaten mit dem Computer ist.

Zweiter Teil dieses Beitrags

[1]  H. Mitgau, Gemeinsames Leben. Der Familienpapiere älterer Teil 1500 bis 1770, Göttingen 1955.

P. E. Schramm, Neun Generationen. Dreihundert Jahre deutscher "Kulturgeschichte" im Lichte der Schicksale einer Hamburger Bürgerfamilie (1648-1948), Göttingen: 1963.

L. Gall, Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989.

[2] A. v. Nell, Die Entwicklung generativer Strukturen bürgerlicher und bäuerlicher Familien von 1750 bis zur Gegenwart, Bochum 1974.

[3] W. Köllmann, Bevölkerung in der Industriellen Revolution, Göttingen 1969, S. 18.

[4] V. Weiss, Hinweise für das Einreichen von Ahnenlisten bei der Deutschen Zentralstelle für Genealogie in Leipzig, Genealogie 41. Jg. (1992) S. 21-32.

[5] J. Knodel und E. Shorter, The reliability of family reconstitution data in German village genealogies, Annales de demographie historique (1976) S. 115-154.

[6] H. Schultz, Berlin 1650-1800. Sozialgeschichte einer Residenz, Berlin 1992.

[7] z.B. L. Stone, Social mobility in England 1500-1700, Past and Present No. 33 (1966) S. 16-55.

[8] H. K. Scheibler, Westdeutsche Ahnentafeln, Weimar 1939.

[9] S. Bormann-Heischkeil, Die soziale Herkunft der Pfarrer und ihrer Ehefrauen, in: M. Greiffenhagen (Hg.), Das evangelische Pfarrhaus, Stuttgart 1984, S. 149-174.

[10] L. Stone und. J. C. F. Stone, An open elite? England 1540-1880, Oxford 1984.

[11] H. Kaelble, Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1983.

[12] V. Weiss, Zur Erforschung der Sozialen Mobilität in Sachsen im 17. und 18. Jahrhundert mit Ahnenlisten, Genealogie 38. Jg. (1989) S. 689-697.

[13] I. Hammer u. V. Weiss, Die Sammlung Ahnenlisten in der Deutschen Zentralstelle für Genealogie in Leipzig, Genealogie 42 (1993) S. 490-499.

[14] K. Münchow, K.-G. Radtke u. V. Weiss, Klassifizierung der Ahnenlisten in der Deutschen Zentralstelle für Genealogie zu Leipzig. Genealogisches Jahrbuch 32 (1993) S. 221-241. - Die Daten für die einzelnen Regionen sind auch in gesonderten Artikeln in den jeweiligen Vereinszeitschriften erschienen.

[15] V. Weiss, Ahnenliste der Geschwister Weiß. Vorfahren väterlicherseits: Teilliste Volkmar Weiß, Leipzig 1993.  (= AL 11414 der Deutschen Zentralstelle für Genealogie in Leipzig).

[16] Weiss, Bevölkerung, S. 43ff.

[17] W. Gerbig u. V. Weiss, Standesbezeichnungen der bäuerlichen Bevölkerung im deutschen Sprachraum, Familienkundliche Nachrichten 8 (1992) No. 13, S. 305-308.

[18] Der Adam-Ries-Bund in Annaberg im Erzgebirge führt eine Nachkommendatei mit über 10000 Personen.

[19] O. K. Roller, Die Einwohner der Stadt Durlach im 18. Jahrhundert in ihren wirtschaftlichen und kulturgeschichtlichen Verhältnissen dargestellt aus ihren Stammtafeln, Karlsruhe 1907.

[20] A. B. Máka, Matrika obce Struzince 1630-1900, Struzinec 1902.

[21] F. Schrienert, Ditfurter Familien=Chronik, Quedlinburg 1906.

[22] .V. Weiss und K. Münchow, Ortsfamilienbücher mit Standort Leipzig in Deutscher Bücherei und Deutscher Zentralstelle für Genealogie, Neustadt/Aisch 1996. Diese Bibliographie weist für Leipzig rund 1200 Ortsfamilienbücher mit rund 1,8 Millionen Familien nach, d.h. rund 7 Millionen Personen. Das Material steht ohne Einschränkungen der Forschung zur Verfügung.

[23] P. Sharpe, The total reconstitution method: a tool for class-specific studies? Local Population Studies No. 44 (1990) S. 41-51.

[24] H. Schwarz, Stichprobenverfahren, München 1976.

[25] Wrigley u. Schofield, S. 23ff..

[26] D. Ashurst, St. Mary´s church, Worsbrough, South Yorkshire: a review of the accuracy of a parish register. Local Population Studies 55 (1995) S. 46-57.

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