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Veröffentlicht in: Archiv für Familiengeschichtsforschung 5 (2001) 177-182
Hat die Genetik für die Genealogen noch eine Bedeutung?
Erwiderung auf den Beitrag "Werden die Deutschen immer dümmer?" von Hans Peter Stamp im "Archiv für Familiengeschichtsforschung" 5 (2001) 119-130
Volkmar
Weiss
Nachdem mir im März 2001 bekannt
geworden war, daß im Internet eine lebhafte Diskussion über eines meiner Bücher
[1]
in
Gang gekommen war, habe ich damals auf meiner Homepage www.v-weiss.de
einige grundsätzliche Anmerkungen dazu gemacht, die ich hier wiederhole:
Eine Diskussion, der ich mich stelle, verlangt ein Mindestmaß an Qualität. Das, worüber man sich äußert - also das Buch "Die IQ-Falle" - muß man wenigstens in der Hand gehabt und darin gelesen haben. Aus einigen Texten mancher aufgeregt Diskutierenden geht aber hervor, daß sie von dem Buch selbst bisher noch keine Zeile gesehen haben und auf Meinungen und Gerüchte reagieren, die von Personen in Umlauf gesetzt werden, die das Buch auch nicht gelesen haben, sondern nur Meinungsäußerungen, die einzelne Aussagen des Buches geradezu auf den Kopf stellen. So bitte nicht. Wer Ernst genommen werden will, muß sich erst selber sachkundig machen.
Ich kann nicht nachvollziehen, wenn jemand, der selbst eine akademische Ausbildung hat - sich mehrere Stunden Arbeitszeit nimmt, um derartige Meinungen und Gerüchte im Internet in Form von anonymen Äußerungen zu kolportieren, ohne erst einmal selber wenigstens eine Stunde ins Buch zu schauen.
Gemeint war damit auch die
Homepage eines Hans Peter Stamp. Inzwischen hat Herr Stamp das Buch in die Hand genommen, und es dürfte
angebracht sein, daß ich mich zu seinen wortreichen Angriffen äußere.
Wer ein Buch mit dem Wort "Politik" im Untertitel schreibt, muß sich im klaren darüber sein, daß er sich aus der wissenschaftlichen Welt hinaus in eine Grauzone begibt, in der unterschiedliche Werthaltungen und Stile der Auseinandersetzung aufeinanderprallen. Darum soll es aber in dieser Erwiderung nicht gehen, sondern ich möchte mich hier auf den wissenschaftlichen Teil der Argumente beschränken. Auch Stamp hätte gut daran getan, auf die erneute anonyme Stimmungsmache am Anfang seines Beitrages zu verzichten und seine Kritik an dem Artikel von Heimo Schwilk in der "Welt am Sonntag" vom 4.2.2001 von der Kritik am eigentlichen Gehalt meines Buches, auf dessen Verteidigung ich mich hier ebenfalls beschränke, sauber zu trennen.
Dabei macht es mir Stamp leicht: Er schreibt zwar richtig, daß die Heritabilität h ein zentraler Begriff ist, um dann aber
festzustellen, daß h quadriert werden müsse, „da nicht h, sondern h2
die Regression des Erbwertes auf den Phänotyp darstellt.“ Wenn Herr Stamp vor irgendeiner akademischen Prüfungskommission diese
Antwort gegeben hätte, wäre er sofort und glatt durchgefallen. Die
Fachterminologie der Genetik ist leider nicht immer und stets konsistent. Aber
es gehört zum elementaren Grundwissen, das jedem Genetik-Studenten eingehämmert
wird, daß die Zwei bei h keine
Quadrierung bedeutet, sondern eine als Konvention festgelegter Zusatz ist. Da
ich diese hochgestellte Zwei persönlich aber für irreführend halte, habe ich in
meinen Publikationen h2 oder noch besser nur h geschrieben.
Es ist das Wesen eines
Sachbuches und noch dazu eines politischen, das sich an einen großen und nur
teilweise speziell vorgebildeten Leserkreis wendet, daß nicht alle Berechnungen
und Formeln im Text selbst vorhanden sind. Der Leser eines guten Sachbuchs darf
aber erwarten, daß sie in der zitierten Literatur im Detail zu finden sind.
Meine Habilarbeit
[2]
als Genetiker z.B. diskutiert auf den S. 36-47 die Formeln und
Berechnungsweisen für Korrelation, Heritabilität, Heritabilitätsindex, Regression und Intrapaarkorrelation.
Neben der Lehrbüchern über Quantitativen bzw. Biometrischen Genetik, deren Lektüre
mir Stamp empfiehlt, quillt mein Arbeitszimmer auch
noch von Tausenden von Sonderdrucken über Statistik, Mendelistische
Genetik, Psychometrie, Demographie und manchem mehr
über.
Stamp hätte
gut daran getan, selbst wieder einmal eine wissenschaftliche Originalarbeit -
z.B. über die unterschiedlichen Denkmethoden in Biometrischer und Mendelistischer Genetik bzw. über multifaktorielle
und Hauptgenmodelle - in die Hand zu nehmen, ehe er
sich über meine angebliche Ignoranz ausgelassen hätte. Denn es ist fast 30
Jahre her, daß er über die Quantitative Genetik der Körpermaße einer lokalen
Pferderasse promoviert hat, so daß er sich sogar an den Titel seiner
Dissertation nicht mehr genau erinnern kann („Stuten“ ist falsch). Seit Jahrzehnten arbeitet er als Journalist
einer regionalen Bauernzeitung, für deren Leser
h2 kein Thema sein
dürfte.
Nach seiner journalistischen
Stimmungsmache - bevor er überhaupt eine Zeile des Buches gelesen hatte - fällt
es Stamp sichtbar schwer, die Sachargumente des
Buches zu verdauen, ohne dabei seinen Ruf als Autorität für genetische
Statistik, für die er sich hält, zu schädigen. Die Argumente, „was ein
Tierzuchtgenetiker zur Erblichkeit der Intelligenz beim Menschen sagen kann“
(so Stamp über selbst), aber besser für sich behalten
hätte (oder mir vorher in einem persönlichen Schreiben mit der Bitte um
Stellungnahme, etwa in einem Telefongespräch, zugeschickt hätte, denn wir leben
ja nicht mehr hinter dem Eisernen Vorhang), alle im Detail zurückzuweisen,
möchte ich hier aussparen, denn dazu ist der kritische und interessierte Leser
meines Buches selbst imstande ist.
Ein erstes Beispiel: Einen Satz
zum „Rückschlag zur Mitte“ von S. 41 meines Buch
zitiert Stamp und weist ihn zurück. Das ist richtig,
nur fällt Stamp dabei nicht auf, daß auch ich die Sichtweise von S. 41, gegen die er sich ausläßt, für vereinfachend und irreführend halte. Mein Buch enthält ein sorgfältig gearbeitetes Personen- und Sachregister. Unter Regression zur Mitte lesen wir dort: 41, 211f.. Auf den Seiten 211 und 212 hätte Stamp dann das nachlesen
können, was er mir gern beibringen möchte.
Das zweite Beispiel: Zur
Normalverteilung. Zu diesem Thema weist mein Sachregister sieben - zum Teil
mehrseitige - Textstellen auf, die
sorgfältig gelesen, die Antwort darauf sind, was für Stamp
Ungereimtheiten sind. Als Bewerber für die C4-Professur für Differentielle
Psychologie an der Martin-Luther-Universität Halle/Saale lautete 1994 mein Vortragsthema vor der Berufungskommission Sind Intelligenztestwerte normalverteilt?. Die Summen der Rohtestwerte einfacher Testaufgaben (im Fachjargon: elementare kognitive Aufgaben) sind es nicht, aber sie werden durch ein Verfahren, das die Psychometriker Flächentransformation nennen, auf die Normalverteilung bzw. den IQ projiziert. Das ist in der Psychometrie
Grundwissen, ebenso wie die Heritabilität in der
Quantitativen Genetik.
In der Bundesrepublik Deutschland, wie auch in anderen Industrieländern, war und ist die Situation nie anders gewesen. Die Hochbegabung ist ein rares Gut, und die besten Köpfe studieren die Fächer, in denen sehr viel Köpfchen zum Verständnis des Stoffes notwendig ist und man später gut bezahlt wird. Das hat aber zur Folge, daß Studenten der Psychologie, Soziologie, Theologie und Landwirtschaft, um nur einige Fachrichtungen zu nennen, einen deutlich niedrigeren mittleren IQ haben müssen, als die oben genannten „harten“ natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächer, die weltweit in der IQ-Spitzengruppe liegen. Veröffentlichungen darüber gibt es in der freien Welt ausreichend, und sie sind von mir zitiert worden. Auch der Leser meines Buches kann z.B. aus der Tabelle auf S. 70 ablesen, daß sich die mittlere Testleistung eines Psychologiestudenten schon im Jahre 1962 kaum von der eines Technischen Zeichners unterschied, aber noch deutlich von der eines Friseurs. Seit 1962 ist die Anzahl der Psychologiestudenten, Sozialpädagogen, Journalisten usw. stark angestiegen, was zur Folge haben muß, daß ihr mittlerer IQ gesunken ist, ebenso wie das bei den Abiturienten des Jahrganges 2000 im Vergleich zu 1962 der Fall sein muß. Worin besteht in derart nüchternen Feststellungen und Schlußfolgerungen für Stamp die „Provokation“, „Diskrimination“ und „Brisanz“? Jeder, der zum erstenmal in einer zum Abitur führenden Schule eine Mathematik-Arbeit geschrieben hat, muß spätestens dann begreifen, wenn er sein Heft zurückbekommen hat und seine Zensur, daß auch die Menschen ungleich sind und nicht nur die Pferde, oder er wird radikaler Kommunist. Es ist eben eine Tatsache, mit der wir alle leben müssen und leben, daß sich aus Berufsabschluß und Mathematik-Note und wenigen Zusatzinformationen der IQ für eine Person mit einem mittleren Fehler von wenigen Punkten schätzen läßt. Das schließt im Einzelfall nicht aus, wie Stamp richtig vermutet, daß ein Hochschulprofessor für Soziologie mit einem IQ von 120, der nach 1990 von Bonn nach Leipzig berufen worden ist, einen Fahrer mit einem IQ von 125 hat, der einmal Diplom-Ingenieur war und von seinem Betrieb abgewickelt worden ist.
Ich finde – siehe die Tabelle auf S. 80 meines Buches - die Tatsache faszinierend, daß bei 100 (100) fähigen Naturwissenschaftlern 47 (49) Brüder, 60 (55) Söhne, 16 (14) Onkel, 23 (22) Neffen, 5 (5) Onkel der Eltern und 16 (18) Vettern ebenfalls weit, weit überdurchschnittliche Leistungen auf vergleichbarem intellektuellen Niveau aufzuweisen haben. Die ersten Zahlen stammen von Francis Galton aus dem Jahre 1869, die zweiten (jeweils in Klammern dahinter) aus meinen eigenen Untersuchungen in den Jahren 1970 bis 1994. Als ich 1995 bei einer Vorlesung an der Universität Leipzig zum erstenmal diese Zahlen hintereinander schrieb, war ich völlig überrascht. Galtons Personen galten als ein kleiner hochselektierter Personenkreis aus einer hochprivilegierten Ständegesellschaft; ich hatte mit Familien einer sogenannten sozialistischen Gesellschaft geforscht, von denen ein Drittel der Verwandten - die absolute Zahl der Onkel der Eltern, auf die sich die 5% beziehen, betrug allein 1 996 – in der bürgerlichen Leistungsgesellschaft des Westens lebte oder lebt. Ich hätte die Übereinstimmung dieser beiden Zahlenreihen deshalb nie erwartet und hatte es selbst mehr als 20 Jahre lang versäumt, sie in einer Tabelle zu vergleichen. Das frappierende Ergebnis des Vergleichs ist aber echte Genealogie, das auch an rein genealogischem Material, also den schon veröffentlichten Ahnen- und Stammlisten hervorragender deutscher Naturwissenschaftler, durch Dritte überprüft werden kann. Soweit ich methodisch saubere Arbeiten und Daten in dieser Richtung schon kenne, kenne, stützen sie die Daten von Galton und Weiss. Mit diesen Daten bekommen die Ahnungen eines Hermann Mitgau, eines Johannes Hohlfeld, Hanns Wolfgang Rath, Friedrich Wilhelm Euler, Gero v. Wilcke und anderer großer Genealogen der Vergangenheit Gestalt, die stets vermutet haben, daß hinter dem sozialem Aufstieg und Abstieg und der Herauskristallation großer Geister in einzelnen Familien, hinter dem „sozialen Generationenschicksal“ (Mitgau) bzw. dem „Gesetz vom Brennpunkt oder Knotenpunkt der Vererbung“ (Lange-Eichbaum [5] ), noch etwas mehr zu finden sein müßte, als die Kausalität der jeweiligen historischen und sozialen Bedingungen, nämlich auch eine Art Naturgesetz. Vom „Blut“ sprach man früher, von den Genen heute. Und deshalb ist Genealogie auch mehr als eine bloße historische Hilfswissenschaft, zu der sie der in diesem Falle etwas ängstliche Humangenetiker Metzke machen möchte.
Ich bin zur Genealogie gekommen, weil die Hochbegabten seit 1969 das Thema meiner Dissertation waren und das Thema meines Vortrages bei meiner Verteidigung lautete: „Probleme der Anwendung der genealogischen Methode in einer genetisch orientierten Intelligenzforschung“ [6] . 1972 wurden die Unterlagen meiner Untersuchung in der Zentralstelle für Genealogie in Leipzig archiviert, wo sie sich heute noch befinden. Die Faszination des Themas - eben in seiner Verbindung mit Genealogie - hat mich nie mehr losgelassen und seine politische Sprengkraft, die andere abschrecken mag, ist und war für mich ein unentbehrlicher intellektueller Reiz.
„Die Wissensexplosion der letzten Jahrzehnte bringt es mit sich, daß auch hochqualifizierte Fachleute kaum noch in der Lage sind, ihr eigenes Fachgebiet in den Details zu übersehen“, schreibt Metzke richtig. Während bis in die Dreißiger Jahre für deutsche Genealogen ein gewisses Maß an Kenntnissen und Interesse an Vererbungslehre eine Selbstverständlichkeit war und Fachleute mit Weltruf, wie z.B. Eugen Fischer [7] , sich auch bei den Genealogen engagierten, hat sich das seit den Fünfziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland gründlich geändert. Nachdem Männer wie v. Klocke, Hohlfeld und v. Gebhardt 1945 begriffen hatten, daß sie sich mehr oder weniger vor einen Karren hatten spannen lassen, der in den Dreck gefahren war, gaben sie dafür der Verquickung von biologischen und sozialen Argumenten die Schuld, bei der ihnen als Nur-Historiker oder Archivar schon immer etwas unwohl gewesen war oder sie fachlich überfordert waren. Umgekehrt mieden fortan auch die Erbforscher, die sich nun Genetiker nannten, mit dem Aussterben der älteren Generation immer mehr den Kontakt zu den Genealogen. Humangenetik wurde fast nur noch als Medizinische Genetik verstanden, und Kontakt zur Genealogie hatte automatisch etwas Unzeitgemäßes, ja Faschistisches an sich, von dem sich nach 1968 der junge etablierte deutsche Hochschullehrer für Genetik fernzuhalten hatte. So entstand eine Lücke, die, etwa im Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung, der Handlungsvertreter Heinz F. Friedrichs und später Edith Zerbin-Rüdin ausfüllten, was kaum beigetragen haben dürfte, die Berührungsängste der Genetiker zu den Genealogen, die für sie zu „Laien“ geworden sind, abzubauen. Erst jetzt, in der 12. Auflage des Taschenbuchs im Jahre 2001, hat die Genetik durch Metzke eine Neubearbeitung erfahren, die versucht, auf der Höhe der in der Genetik immer rascher eilenden Zeit zu sein.
Dennoch sind auch in den letzten Jahren in deutscher Sprache in den Grenzbereichen zwischen Genealogie und Genetik Zeitschriftenaufsätze und sogar Bücher erschienen. Eine von Metzke oder Weiss geschriebene Rezension von einem solchen Buch wird man nicht finden. Mir persönlich tut es leid, da ich einem Verfasser ehrliches Bemühen stets unterstelle, wenn ich in einer Rezension feststellen müßte, daß es sich um eine Arbeit aus einer provinzwissenschaftlichen Subkultur handelt, die offensichtlich englisch- oder französischsprachige Publikationen, die es – z.B. zur Inzucht - seit Jahrzehnten gibt, nicht zur Kenntnis genommen hat und die damit irgendeinen Koeffizienten zum vieltenmale erfindet. Als Wortführer dieser Subkultur versucht sich Stamp zu profilieren [9] .
Aber selbst auf einem Gebiet, wo heute jedermann ohne Labor und große Kosten zu Hause am Computer die „Populationsgenetik des kleines Mannes“ auf hohem Niveau betreiben könnte, nämlich bei der Auswertung von Familiennamenhäufigkeiten [10] (da Familiennamen genetisch als Allele eines einzigen Genlocus verstanden werden können), ist es soweit gekommen, daß in Deutschland zu dieser Thematik seit Jahrzehnten keine einzige Arbeit mehr erschienen ist und inzwischen ausländische Forscher die deutschen Telefondateien auswerten [11] . – Aus den schon oben zitierten veröffentlichten Daten von Galton und Weiss (S. 80) über die Prozentzahl der Hochbegabten unter den Verwandten läßt sich die Matrix der Übergangswahrscheinlichkeit für die den prozentualen Häufigkeiten zugrundeliegenden vermuteten Gene schätzen. Derartige Schätzungen sind wissenschaftliche Verfahren von beträchtlicher Raffinesse, an denen sich Stamp gern versuchen kann, denn für die bildungssoziologischen Folgen (Mitte der S. 142 meines Buches) liegen bisher noch keine detaillierten Modellrechnungen vor.
In den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts warfen Walter Scheidt und andere die Frage auf, inwieweit eine Bevölkerung eines bestimmten Dorfes von 1550 genetisch noch mit der Bevölkerung der Gegenwart identisch ist bzw. inwieweit sich die „Blutanteile“ (Genfrequenzen sagt man heute) verschoben haben. Die Forscher glaubten damals, dazu mit der sorgfältigen genealogischen Erforschung einzelner Dörfer einen Beitrag leisten zu können. Da aber in jede Teilbevölkerung hinein und hinaus Ein- und Auswanderung von Personen mit unbekannter genetischer Ausstattung stattfindet, waren diesen Bemühungen Grenzen gesetzt. Wird man aber in den nächsten Jahrzehnten die gleiche Fragestellung wieder untersuchen und diesmal die Molekulargenetik mit heranziehen, so wird sich das, was für Walter Scheidt als Forscher ein Wunschtraum war, ziemlich gut beantworten lassen. Aus dieser Sicht halte ich die in der jüngsten Taschenbuchbearbeitung von Metzke vertretene Meinung, daß die Molekulargenetik der Genealogie kaum mehr bedürfe, für viel zu pessimistisch. Im Gegenteil: Wenn man sieht, wie in Island, Estland, Finnland und Quebec molekulare Humangenetik, Genealogie und historische Demographie ineinandergreifen, dann ahnt man, welche neuen Chancen es auch für die Genealogie geben wird und welcher Nachholebedarf im deutschen Sprachraum bereits besteht. Die bereits nachgewiesenen Assoziationen zwischen Familiennamenhäufigkeiten und bestimmten molekulargenetischen Markern finde ich z.B. aufregend, auch für Genealogen. Auch die Hochbegabungsforschung wird in wenigen Jahren durch die Entdeckung konkreter beteiligter Gene Impulse erhalten, durch die uralte Vermutungen eine reale Substanz erhalten werden.
Wenn man meine zweite Habilarbeit [12] , diesmal als Historiker, liest, die auf der statistischen Auswertung von Ahnenlisten der Leipziger Zentralstelle beruht, wird niemand auf den Gedanken kommen, daß diese Arbeit von einem Wissenschaftler geschrieben ist, der zugleich auch Genetiker ist. Um die Verteidigung der Arbeit an einer geisteswissenschaftlichen Fakultät nicht zu erschweren, habe ich genau die schizophrene Persönlichkeitsspaltung vollzogen, die Metzke von den genetisch gebildeten Genealogen als Tugend fordert, die aber nicht anderes ist als der vorauseilende Gehorsam gegenüber dem Verfolgungsdruck der herrschenden Politischen Korrektheit [13] . Das führt in seiner Konsequenz dazu, daß im Jahre 2001 in Berlin ein Sammelband [14] zu der Thematik „Genealogie und Genetik“ erscheint als Ergebnis einer Veranstaltung, bei der niemand auf den Gedanken gekommen ist, einen Metzke, Stamp oder Weiss einzuladen oder sich nach dem Vorhandensein von Personen mit einem übergreifendem Fachwissen im deutschen Sprachraum auch nur zu erkundigen. Das beweist, daß die Selbstzensur der deutschsprachigen Genealogen sich nicht auszahlt, und die breitere Öffentlichkeit mit den Themen Genealogie und Genetik Hoffnungen und Ängste verbindet, denen wir mit unserem Fachwissen nicht einfach ausweichen können wie der Vogel Strauß. Darauf mit seiner Kritik hingewiesen zu haben, dafür muß man Stamp dankbar sein.
[1] Weiss, Volkmar: Die IQ-Falle: Intelligenz, Sozialstruktur und Politik. Graz: Leopold Stocker 2000.
[2] Weiss, Volkmar: Psychogenetik: Humangenetik in Psychologie und Psychiatrie. Jena: Gustav Fischer 1982 (= Genetik. Grundlagen, Ergebnisse und Probleme in Einzeldarstellungen 12); Nachdruck unter dem Titel: Psychogenetik der Intelligenz. Dortmund: Modernes Lernen 1986 (= Beiband zu Jahrgang 27 der Zeitschrift Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft/Humankybernetik).
[3] Metzke, Hermann: Kommentar. Genealogie 50. Jg. (2001) 536-537.
[4]
Herrnstein ,
Richard J . and Charles Murray: The
[5] Lange-Eichbaum, Wilhelm und Wolfram Kurth: Genie, Irrsinn und Ruhm. Genie-Mythos und Pathographie des Genies. 6. Auflage. München: Ernst Reinhardt 1967.
[6] In vollem Wortlaut veröffentlicht in: Mitteilungen der Sektion Anthropologie der Biologischen Gesellschaft der DDR, H. 28 (1972) 45-56.
[7] Eugen Fischer war jahrzehntelang Vorsitzender des Landesvereins Badische Heimat und Förderer der Familienforschung gewesen. Siehe das Thematische Heft „Badische Familienforschung“ von „Mein Heimatland.“ 14 , H. 1/2 (1927).
[8] Geppert, Harald und Siegfried Koller: Erbmathematik. Theorie der Vererbung in Bevölkerung und Sippe. Leipzig: Quelle und Meyer 1938. – Koller machte nach 1945 im Statistischen Bundesamt eine große Karriere.
[9] Daß eine Qualifikation als „Tierzuchtgenetiker“ nicht vor Fehleinschätzungen bei gesellschaftlichen Bezügen schützt, dafür vergleiche: Weiss, Volkmar: Die Machtergreifung der Viehzüchter. = Die Vorgeschichte des arischen Ahnenpasses. Teil III. Genealogie 50. Jg. (2001) H. 7/8.
[10] Eine
Übersicht dazu enthält der Abschnitt „Medizinische Fragestellungen und
Inzucht“, S. 93-97, in: Weiss, Volkmar und Katja Münchow: Ortsfamilienbücher mit
Standort Leipzig in Deutscher Bücherei und Deutscher Zentralstelle für
Genealogie. 2. Auflage.
Neustadt/Aisch: Degener 1998.
[11]
Rodriguezlarralde,
A., Barrai, J., Nestic, C.,
Mamolini, E. and C. Scapoli:
Isonymy and isolation by distance in
[12] Weiss, Volkmar: Bevölkerung und soziale Mobilität: Sachsen 1550-1880. Berlin: Akademie-Verlag 1993.
[13] de Benoist, Alain: Schöne vernetzte Welt. Tübingen: Hohenrain 2001; darin: Die Methoden der Neuen Inquisition. Orwell läßt grüßen, S. 173-206.