Der folgende Text aus: Weiss, Volkmar: Die IQ-Falle: Intelligenz, Sozialstruktur und Politik. Graz: Leopold Stocker 2000, S. 136ff.
In Deutschland wird von den Soziologen immer wieder die Frage gestellt
(Müller und Haun 1994, Geißler 1996): Wie hat sich die Bildungsexpansion und -inflation auf die schichtspezifische Ungleichheit der Bildungschancen ausgewirkt (vgl. dazu mit einer größeren Perspektive auch Boudon 1973)? Leider hantiert die Bildungsstatistik der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bundesländern mit so unsauberen statistischen Kategorien, daß damit zur Untersuchung dieser Frage eher zur Verkleisterung als zur Erhellung beigetragen wird. Welchen Bildungsgrad haben z.B. Selbständige als Väter? Da auch die altbundesdeutsche bildungssoziologische Forschung kurioserweise von der - eigentlich zutiefst marxistischen Wunschvorstellung durchdrungen ist - daß sie die Aufgabe habe, eine immer größere Angleichung der Bildungschancen nachzuweisen und nur ein solcher als als
positives Ergebnis zu werten sei, ob nun der Forschung oder Realität, spielt
dabei keine Rolle, und wehe den Daten, wenn sie nicht die Wunschvorstellung
bestätigen, denken nicht einmal die Max-Planck-Institute für Bildungsforschung
und Psychologie, deren Aufgabe es wäre, verläßliche Daten zu erheben, daran,
den IQ von Vater, Mutter und ihren Kindern zu erheben und mit Bildungsgraden
und Berufen in Beziehung zu setzen. Vieles muß also indirekt erschlossen
werden.
Schichtspezifische Schulbesuchs- und Studierquoten in der
Bundesrepublik Deutschland 1988 (in %) |
Beruf und Bildung
Die Kinder besuchen des Familienvorstandes ein Gymnasium eine Wiss. Hochschule selbständige Akademiker 76 82 Beamte mit Abitur
77 67 Angestellte mit Abitur
73
58 Beamte mit mittlerem
Abschluß
47
21 Angestellte mit mittlerem
Abschluß 46 20 nichtakad. Selbständige
(ohne Landwirte) 34 (mit Landwirten) 16 Beamte ohne mittleren
Abschluß 28 15 Angestellte ohne
mittleren Abschluß
24
13 selbständige
Landwirte
17
siehe oben deutsche
Arbeiter mit Lehre 14 6 deutsche
Arbeiter ohne Lehre 7 2 Quelle: nach Geißler 1996, S.
262, Abb. 12.4 |
Wie immer wird auch in dieser Tabelle soziale Herkunft allein durch den Vater bestimmt. Der Bildungsgrad und der IQ der Mutter werden völlig außer acht gelassen, obwohl gerade das interessant wäre.
In einer repräsentativen Umfrage (n = 6 000) des
Zentralinstituts für Jugendforschung unter den Studenten der DDR (vorwiegend
des 2. Studienjahres) stellte man 1979 (Bathke 1990)
fest, daß in 56% der Familien mindestens ein Elternteil Hoch- oder
Fachschulbildung hatte (bei 33% beide Eltern) und nur in 9% der Familien ein
Elternteil ohne Berufsabschluß war. Zehn Jahre später, 1989, hatten sich die
die Prozentsätze auf 78% mit mindestens einem Elternteil Hoch- oder
Fachschulbildung und nur noch 2% mit einem Elternteil ohne Berufsabschluß
verändert (Bathke 1990). Bei den Müttern war der
Anteil von 16% im Jahre 1977 mit Hoch- oder Fachschulabschluß auf 56% im Jahre
1989 gestiegen, was sowohl die gestiegene formale Qualifkation
in der Generation der Mütter belegt, als auch die durchschnittliche hohe Zahl
von Kindern, die in der DDR von Akademikerinnen geboren wurden. Vom Vorrücken
der gut ausgebildeten Frauenjahrgänge ins Alter von Studenteneltern ging eine erneuter Impuls zur Verschärfung der sozialen Auslese
aus. Bei Hochschulabschluß der Mütter hatten 82% der Väter ebenfalls einen
Hochschulabschluß, 91% mindestens einen Fachschulabschluß. Die Beziehung
zwischen dem IQ der Studenten und ihrer sozialen Herkunft wird auch aus dem
Zusammenhang zwischen den Abiturdurchschnittsnoten und der sozialen Herkunft
deutlich: Bei einer Abiturdurchschnittsnote von 1,0 bis 1,5 bzw. einem IQ über
130 hatte (Bathke 1993) bei 31% mindestens ein Elternteil einen Universitätsabschluß, bei einem Durchschnitt über 2,9 nur noch 3%. In den mathematisch-naturwissenschaftlichen Elitefächern (und der Medizin) hatten von den Studienanfängern aus den neuen Bundesländern Ende 1992 bei 79% (bzw. bei Medizinern 84%) mindestens ein Elternteil Hoch- oder Fachschulabschluß und 7% (bzw. 2%) nur einen Volkschulabschluß. Dennoch verkündete die offizielle Staatssoziologie der DDR noch bis in die Achtziger Jahre die Doktrin, daß die Rekrutierung der Intelligenz aus allen Klassen, Schichten und sozialen Gruppen eine geschichtliche Errungenschaft sei, die nicht aufs Spiel gesetzt werden könne. In Wahrheit jedoch vollzog sich in der Schlußphase der DDR die soziale Auslese auf dem Weg in die Universitäten noch schärfer als im Westen. Bei der ersten vergleichenden deutsch-deutschen Studentenuntersuchungen im Jahre 1990 stellte sich heraus (nach Geißler 1996), daß 47% der mitteldeutschen, aber nur 23% der westdeutschen Studierenden einen akademisch ausgebildeten Vater hatten. Die spiegelbildliche Entsprechung dazu ist die Herkunft aus dem Arbeitermilieu: Von den Ersteinschreibungen an den Universitäten für das Wintersemester 1992/93 (Bathke
1993) hatten aus den neuen Bundesländern 6% ein Elternteil, das nur einen
Volksschulabschluß hatte, in den alten Bundesländern 23%.
Wie aber verarbeitet die Soziologie nach dem politischen
Umbruch von 1989/90 diese simplen Zahlen? In der ersten Nummer von „Forschung
und Lehre“, den Mitteilungen des Deutschen Hochschulverbandes, können wir 1994
(auf S. 48, ohne Autor) als Kommentar zu den eben genannten Zahlen lesen: Die soziale Herkunft übt noch immer einen starken Einfluß auf die Entscheidung für oder gegen eine akademische Bildungslaufbahn aus. Tatsächlich, „noch immer“, und dabei hat Karl Marx doch sein Manifest schon vor 150 Jahren
geschrieben! Wenn man aber Vererbung von Intelligenz als eine Tatsache
akzeptieren würde, dann würde man rasch feststellen, daß sich die soziale
Herkunft der Abiturienten als eine reine Funktion der Leistungssiebung unter
den Abiturienten selbst bzw. des prozentualen Anteils der Abiturienten am
jeweiligen Geburtsjahrgangs und der Kinderzahl bei Akademikern beschreiben und
vorhersagen läßt. Und in diesem Punkte war die sozialistische
Leistungsgesellschaft, die offiziell egalitär und kommunistisch war, nun einmal
konsequenter, als die, rein wirtschaftlich gesehen, offizielle
Leistungsgesellschaft des Westens, die einer egalitären Soziologie an ihren
Universitäten Narrenfreiheit einräumt. Das eigentliche Ideal dieser
Gesellschafts- und Bildungspolitik ist es, den Zugang zu Abitur und Studium
entweder allen zugänglich zu machen oder zu verlosen und alle objektiven
Leistungsbewertungen, wie Schulzensuren, IQ-Tests oder Eignungstests
abzuschaffen oder zu verbieten. Kennt man aber den Zusammenhang zwischen dem IQ
der Eltern und ihre Zugehörigkeit zu den Genotypen M1M1, M1M2 und M2M2, dann
läßt sich, wenn soundsoviel Prozent der Eltern Abitur
oder Fachschulabschluß haben, mühelos voraussagen (das Modell berechnet heute
jeder Computer), wieviel Prozent der Kinder wieder Abitur haben werden, wenn soundsoviel Kinder geboren werden und soundsoviel Prozent des Geburtsjahrgangs Abitur erlangen. Und da in den alten Bundesländern dieser Prozentsatz der Abiturienten höher ist, haben auch mehr Arbeiterkinder Abitur. Und da in der DDR der Prozentanteil der Abiturienten niedriger war und damit die Leistungsauslese schärfer und die Intelligenz selbst mehr Kinder hatte, haben weit mehr Eltern selbst Abitur. Der ganze Zusammenhang ist letztlich ziemlich einfach. Statt das aber zu begreifen, entdeckt die altbundesrepublikanische Soziologie, jetzt zahlenmäßig verstärkt durch ihre marxistischen Blutsbrüder, eine neue und tiefe Ursache für den Zusammenbruch der DDR, nämlich (Geißler 1996) Erstarrungstendenzen durch die soziale Schließung des Bildungssystems. Die soziale Schließung der höheren Bildungswege und die damit verbundenen Einbußen an vertikaler Mobilität bedeuten einen Vorstoß gegen das Prinzip der leistungsbezogenen Chancengleichheit und damit ebenfalls eine Abweichung vom Weg der Modernisierung. Daß die DDR die Bildungsinflation nicht so schrankenlos
mitgemacht hat, wird ihr als „Modernisierungsdefizit angekreidet. Es scheint aber so zu sein, als könne jede Gesellschaft nur ein gewisses Maß der Irrationalität verkraften, die eine gleichmacherische Politik nun einmal darstellt. Die DDR hatte in der Wirtschaft ausgesprochen gleichmacherische Tendenzen und konnte sich dafür im Bildungswesen und im Leistungssport ein erhebliches Maß an Ungleichheit leisten; die altbundesrepublikanische Gesellschaft ist in der freien Wirtschaft eine erbarmungslose Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft, die ihren gleichmacherischen Elementen in den Geistes- und Sozialwissenschaften, im Bildungswesen und im Öffentlichen Dienst ein breites Tummelfeld überläßt.