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Nicht nur die Nationalsozialisten hatten etwas gegen Intelligenztests, sondern auch die Kommunisten haben etwas dagegen. Bei den Nationalsozialisten würde unser Zeitgeist gern das Gegenteil vermuten oder behaupten, aber sie waren nun einmal der Überzeugung, es seien "jüdische Tests"; bei den  Kommunisten ist die Unterdrückung der Intelligenztests schon eher als eine logische Konsequenz der Gleichheitsideologie zu erwarten, wenn diese auch nicht so weit führte, auch die Schulzensuren abschaffen zu wollen, wenngleich in der Sowjetunion die Einheitsschule eingeführt worden war.

In den Zwanziger Jahren gab es in der jungen Sowjetunion die Pädologie und die Psychotechnik (Kurek 1995). Die Pädologie befaßte sich mit der Zusammensetzung der Schulklassen und mit geistig gestörten und schwer erziehbaren Kindern, die Psychotechnik mit Anwendungen der Psychologie in der Berufsausbildung, der Berufswahl und der Rationalisierung der Arbeit. Beide Wissenschaftsgebiete hatten sich in Rußland bereits vor 1917 entwickelt. Im Jahre 1931 jedoch rief Stalin die jungen Philosophen zum ideologischen Zweifrontenkrieg gegen die Pervertierung des Marxismus-Leninismus auf. Am 25.8.1931 wurde vom Zentralkomitee der Kommunisten Partei der Sowjetunion ein Beschluß gefaßt, der sich gegen die linksextreme Theorie vom "Absterben der Schule" und der Abschaffung der Schulzensuren wandte. Am 5.9.1931 wurde in den Schulen die Anwendungen von Fragebogen und Tests verboten. Unmittelbarer Anlaß war, daß in diesen Jahren  von den sowjetischen Psychologen eine ganze Reihe von Untersuchungen veröffentlicht worden sind, deren Ergebnisse (mehr Details bei Kurek 1995) den kommunistischen Ideologen und Machthabern nicht gefielen. So hatten in einer Untersuchung 90% der Kinder ihr Volk als bestes Volk bezeichnet, was nicht im Einklang mit den Bestrebungen der Kommunisten zur internationalen Erziehung stand. Bei nationalen Minderheiten fand man einen stark überhöhten Anteil an Kindern mit einem niedrigen IQ im Schwachsinnsbereich (Befunde, die dann nach 1992 in dramatischer Weise wieder bestätigt worden sind, was kein Wunder ist, da über drei Generationen lang Personen mit hohem IQ russifiziert worden sind). Weiterhin hatte man gefunden, daß Moskauer Polizisten einen niedrigen IQ hatten. Andere Psychologen, wie Brem in seinem Buch „Intelligenz und soziale Schicht“, hatten sachlich zutreffend geschrieben, daß es in Deutschland Zusammenhänge zwischen dem IQ und der sozialen Herkunft von Schülern der Mittelschule, der Volksschule und der Hilfschule gibt und die Proletarierkinder den niedrigsten IQ haben  (also Befunde, wie sie bisher stets und überall in der Welt, wo IQ-Tests nicht verboten sind, gemacht worden sind und gemacht werden). „Insofern muß die Kritik und das Verbot der Test in der UdSSR auch als eine Reaktion auf den Faschismus in Deutschland in Deutschland und dessen Theorie des Übermenschen und des Untermenschen angesehen werden“, meint Kurek 1995. Diese Reaktion (wenn es überhaupt eine war, denn worauf hat dann Pol Pot reagiert?) war überaus rasch: Schon 1932 wurde die Zeitschrift „Die Pädologie“ verboten, 1934 die Zeitschrift „Die Sowjetische Psychotechnik“. Am 4.7.1936 wurde vom Zentralkomitee der KPdSU der berüchtigePädologie-Beschluß“ gefaßt. „In seinem Gefolge wurde die Pädologie und die Psychotechnik liquidiert. Die Pädologen und die Psychotechniker wurden als Klassenfeinde bezeichnet, die der Kulturrevolution im Wege stehen ...  In diesem Zusammenhang  erschien am 15.6.1936 erschien ein Leitartikel unter dem Titel ‘Die volle Gleichberechtigung der Rassen und Nationen’ in der ‘Prawda’. In ihm wurde dargelegt, daß es keine Unterschiede zwischen den Völkern gibt und daß es auch keine niederen und höheren Nationen gebe. Am 25.6.1936 erschien ein weiterer Leitartikel in der ‘Prawda’, der den Titel trug: ‘Der unverbrüchliche Bund zwischen Arbeitern und Bauern’. In ihm wurde ausgeführt, daß die Arbeiterklasse den Unterschied zwischen physischer und geistiger Arbeit beseitigt. ... In diesem Beitrag wird auch behauptet, daß die Arbeit der Arbeiterklasse das Musterbeispiel für die Kopfarbeit der Intelligenz sei. Am 5.7.1936 erschien schließlich in der ‘Prawda’ ein weiterer Leitartikel unter der Überschrift: ‘Die Enthüllung der pädologischen Scheinwissenschaft’. In ihm wurde behauptet, daß die pädologischen Konzeptionen Wiederholungen bürgerlicher Unwahrheiten, so z.B. von den besonderen Begabungen der höheren Rassen und Klassen und der Unfähigkeit des Proletariats zur Wissenschaft darstellen. Das Verbot hatte breite negative Folgen. ... Der Leiter der Pädologie, A. B. Salkind, starb im Jahre 1936 nach dem Besuch des Kommissariats der Volksbildung an einem Herzinfarkt. Entsprechend dem Befehl Nr. 211 des Kommissariats für Volksbildung wurden auch die schwachsinnigen Kinder in die Normalschule eingeschult. Dies führte zur Desorganisation des schulischen Unterrichts. Auf der Basis des Befehls Nr. 262 ... wurde die psychotechnisch und pädologisch organisierte Berufswahl und Berufsberatung abgeschafft, weil sie Fragebogen und Tests als Methoden benutzt hatten. Tests wurden generell verboten. ... Noch im Jahre 1986 schrieb B. W. Zeigarnik: ‘Man braucht nicht den wissenschaftlichen Versuch, der uns die Möglichkeit der qualitativen Bewertung, wie im Falle der sogenannten Tests, nicht gibt. Ihre Praxis und Anwendung wurde zur Recht getadelt.’ Heute aber muß man feststellen: Die Verurteilung der Testmethodik und ihrer Anwendung in der Sowjetunion waren Ursachen für das niedrige Niveau der Psychologie und für den Mißbrauch der Psychiatrie in der UdSSR“ (Kurek 1995). Wie man sieht, könnten sich unsere Testgegner aus diesen Vorgängen durchaus noch einige Argumente aneignen, mit denen sie ihre Gegnerschaft gegen Tests begründen können.

Zwischen dem Einsetzen der massiven Verfolgung der Genetiker und dem Verbot der Intelligenztests, beides im Jahre 1936, gibt es nicht nur einen unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang, sondern auch einen tiefen ideologischen. Nach 1945 wurde die Praxis des Testverbots auf alle Ostblockstaaten ausgedehnt, und mit dem Höhepunkt des Lyssenkoismus nach 1948 wurde die Verfolgung von kritischen Meinungen nochmals verschärft und jede Art wissenschaftliche Forschung in diese Richtung unterbunden. Einer der Scharfmacher des Lyssenkoismus, V. N. Stoletov, der sich 1948 im Kampf gegen den „reaktionären Morganismus-Mendelismus“ besonders verdient gemacht hatte, wurde 1951 sogar Bildungsminister der Sowjetunion und dann 1972 Präsident der Pädagogischen Wissenschaften der Sowjetunion. In dieser Eigenschaft tauchte er 1974 in der DDR auf und hielt aus der tiefsten Überzeugung seiner egalitären Ideologie Reden, die bei seinen Amtsbrüdern in DDR, wo man inzwischen zielstrebig begonnen hatte, zumindest im Bildungswesen (in der Wirtschaft ist das ja nie gelungen) den dogmatischen Kommunismus in eine sozialistische Leistungsgesellschaft umzuwandeln, nicht geringe Verlegenheit hervorrief (Weiss 1991). Denn in den Sechziger Jahren hatte man in der DDR begonnen, bestehende Verbote zu unterlaufen, und Intelligenztests wurden wieder in der akademischen Forschung verwendet (Gutjahr 1971, Guthke 1978).

In der Sowjetunion gingen die Uhren anders: Noch am 15. Juni 1983 fragte der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Tschernenko, der letzte Mann der alten Garde der Vorhut des Proletariats: „Kann eine Denkweise als wissenschaftlich angesehen werden, die geistige Eigenschaften durch die Existenz von Genen erklärt und die leugnet, daß solche Eigenschaften durch die soziale Umwelt verursacht sind?“ Auch in China gilt, wie vielerorts, jede Annahme von erblichen geistigen Eigenschaften als reaktionär und die Auffassung als richtig, daß jedes politische System dann am besten funktioniert, wenn ein Maximum an tatsächlicher sozialer Ungleichheit erreicht wird, jedoch die meisten Menschen entweder ehrlich davon überzeugt sind, daß es keine nennenswerte Ungleichheit gibt oder es im Zweifelsfalle zu gefährlich ist, darüber eine Meinung zu haben.