Vorbemerkung im Januar 2003: Als
dieser Beitrag vor 26 Jahren geschrieben worden ist, war noch nicht abzusehen,
daß Familiennamenhäufigkeiten und Familiennamenverteilungen einmal für
jedermann auf CD-ROM oder im Telefonbuch des Internets zugänglich sein werden.
Die Forschungen, die damals eher ein weiter Griff in die Zukunft schienen, sind
damit heute durchführbar geworden.
Namenkundliche Informationen 31 (1977) 27-32
Familiennamenhäufigkeiten in Vergangenheit und Gegenwart als Ausgangspunkt für interdisziplinäre Forschungen von Linguisten, Historikern, Soziologen, Geographen und Humangenetikern
Volkmar
Weiss
Zurück zur
Startseite
Der Linguist, wenn er über Familiennamen forscht, interessiert sich vor allem für deren Entstehung und Entwicklung, und befaßt er sich mit Häufigkeiten, so sind es in erster Linie die Häufigkeiten von bestimmten Bildungsweisen der Namen oder deren Veränderungen in der Schreibweise. Untersucht man den Anteil slawischer Familiennamen innerhalb einer Population mit überwiegend germanischen Familiennamen, so beginnt diese Fragestellungen schon zu den Problemstellungen überzuleiten, auf die hier aufmerksam gemacht werden soll, zu deren Bearbeitung es aber bisher an genügend aufbereitetem Quellenmaterial fehlt.
Nehmen wir an, für ein bestimmtes Gebiet, z.B. für das Vogtland, lägen zwei Untersuchungsergebnisse, zwei Datensätze, vor: 1. Die Dialektverbreitung, quantitativ und detailliert, und 2. die Familiennamenhäufigkeiten. [1] Zwei relativ weit auseinander liegende Orte hätten auffallende Gemeinsamkeiten im Dialekt. Beide Orte hatten in der Vergangenheit, verursacht durch wirtschaftliche Gemeinsamkeiten, häufige soziale Kontakte, über Eheschließungen oder Bevölkerungsaustausch zwischen den beiden Orten lägen aber keine Daten vor. – Für die starke Ähnlichkeit oder Identität von Dialekten zwischen verschiedenen Orten gibt es prinzipiell zwei verschiedene Kausalmechanismen: 1. der Kontakt zwischen den Orten ist biologischer Art, der Dialekt wird durch Wanderung von Personen und Heirat weitergegeben, oder 2. der Kontakt ist rein sozialer Art (kulturell, wirtschaftlich, verwaltungsmäßig usw.), der Dialekt wird durch eine Art „Ansteckung“ weiterverbreitet, ohne daß „Mischehen“ stattfinden brauchen. In der Wirklichkeit werden beide Möglichkeiten mehr oder minder gemeinsam vorkommen, und es ist dann interessant, wie groß der relative Anteil der einen oder der anderen kausalen Erklärung in jedem konkreten Falle ist. Dialektverschiebungen können dann durch stärkere biologische Vermehrung (oder Wanderung) des einen Bevölkerungsteils oder durch dessen „soziales Übergewicht“ verursacht worden sein. Wohlbegründete Vermutungen oder Spekulationen lassen sich in der Literatur leicht finden, quantitative und sogar untereinander vergleichbare Angaben sicher seltener. – So gesehen ist die Fragestellung noch relativ einfach. Die soziale und sprachliche Wirklichkeit ist komplizierter: Familiennamenhäufigkeiten und Dialektverbreitung bzw. umgangssprachliche Formen sind nicht nur im geographischen Raum, sondern auch in der Zeit und vor allem in der sozialen Dimension differenziert; die sozialen Klassen und Schichten unterscheiden sich nachgewiesenermaßen sprachlich und in den Familiennamenhäufigkeiten, und diese Unterschiede unterliegen historischen Veränderungen. Aus dieser Sachlage ergibt sich, daß diese Fragestellungen mehrere Disziplinen betrifft: die Linguistik, die Sozial-, Wirtschafts- und Bevölkerungsgeschichte, einschließlich der Genealogie [2] , die Soziologie, z.B. die Forschungen über die Soziale Mobilität und die Sprachsoziologie, die Geographie mit der Theorie der zentralen Orte – oft zugleich auch sprachliche Zentren – und der Diffussionstheorie [3] , d.h. der Theorie von der Ausbreitung von Neuerungen und damit auch Namen.
Will man jedoch praktisch an diese Fragen herangehen und eine Art Forschungsexempel für eine derart komplexe Fragestellung statuieren, so stößt man, wenn man das Problem der Verfügbarkeit von elektronischen Rechenanlagen beiseite läßt, auf ein im Moment unüberwindliches Hindernis: Das Datenmaterial ist nicht genügend aufbereitet oder in ungeeigneter Form publiziert. Für die Gegenwart gibt es für ein größeres Gebiet nur das „Nederlands repertorium van familiennamen“, das sofort eine geeignete Materialgrundlage abgäbe, obwohl auch in diesem Werk die soziale Verteilung der Familiennamen unberücksichtigt bleibt. [4] Diesen Nachteil besitzen nicht die Adreßbücher, die aber mühselig ausgezählt und bei denen die Berufe erst klassifiziert und geordnet werden müssen. Für die Vergangenheit fehlt aufbereitetes Material fast völlig: Über Kirchenbücher und Steuerlisten, die in erster Linie als Quelle dienen müssen, gibt es höchstens Angaben über einzelne Orte, aber keine zusammenhängende gedruckte oder als Kartei vorliegende Quellenaufbereitung mit Angaben über Familiennamenhäufigkeiten und der sozialen Zuordnung der Namensträger. – Andererseits liegen auch die Ergebnisse der Dialektforschung in oft zu stark generalisierten Karten vor, so daß eine mathematische Bearbeitung schwer oder unmöglich ist, da dafür detaillierte Häufigkeitsangaben über die gefundenen sprachlichen Formen für jeden Ort unter Berücksichtigung sozialer Unterschiede notwendig sind. Lägen derartige Daten vor, wäre die Beantwortung der genannten Fragestellung heute von der Seite der vorhandenen mathematischen Verfahren kein Problem mehr.
Die Ausbreitung und das Aussterben von Familiennamen haben namhafte Statistiker seit 100 Jahren interessiert. Es ist in diesem Zeitraum ein eigenes Arbeitsgebiet der Mathematik und Physik, die Theorie der sich verzweigenden Prozesse (GALTON-WATSON-Prozesse), entstanden, die u.a. auch mit die theoretischen Grundlagen für die Berechnung der Kettenreaktion geliefert hat, was zur Entwicklung von Atom- und Wasserstoffbomben geführt hat. – In der biologischen Evolutionstheorie lieferten Familiennamen ein allgemeines Modell für die Entstehung, die Ausbreitung und das Aussterben von Genen. [5] Diese im wesentlichen mathematisch klaren und eindeutigen Gesetzmäßigkeiten, die der Weitergabe, Ausbreitung und dem Verschwinden von Familiennamen zugrunde liegen, klar verbunden mit dem biologischen und sozialen Prozeß der Heirat, der Wanderung und der unterschiedlichen Kinderzahl von Familien sind es auch, die den Humangenetiker interessieren, lassen sich doch dadurch die genetischen Eigenschaften von Bevölkerungen und Einzelpersonen, ihre Ähnlichkeit zueinander, auf statistisch elegante Weise mit relativ geringem Aufwand beschreiben. Den Startschuß hatten dafür die Amerikaner CROW und MANGE 1965 [6] gegeben, die den Inzuchtkoeffizienten einer Population aus dem Anteil der isonymen Heiraten schätzten, d.h. aus dem Anteil der Heiraten, bei dem beide Ehepartner vor der Eheschließung bereits denselben Familiennamen haben, wobei sie eine Anregung des Nobelpreisträgers MULLER aufgriffen. In den nächsten Jahren folgten zahlreiche Arbeiten mit ähnlicher Zielsetzung in mehreren Ländern: u.a. der Schweiz, Italien, Schweden, Großbritannien, Peru und Japan (weitere Literaturhinweise siehe bei WEISS 1973, 1974 und 1976, vgl. Anm. 1 und 2) - , und diese Arbeiten führten zu einer Verbreitung und Verallgemeinerung der theoretischen Grundlagen, so daß auch Adreßbücher, Einwohnerverzeichnisse und Ahnenlisten und Ahnentafeln als Materialgrundlage der Familiennamengenetik erschlossen wurden.
Allgemeinere Fragestellungen, die über das fachwissenschaftliche Interesse der Humangenetik hinausgehen, wurden bearbeitbar, als man dazu überging, die Ähnlichkeit von zwei oder mehreren Personengruppen (statistischen Populationen: Orten, sozialen Schichten, Berufsgruppen usw.) durch ihre Familiennamenhäufigkeiten zu beschreiben [7] , so wie das vorher und gleichzeitig auch schon von Blutgruppenhäufigkeiten [8] und von körperlichen Merkmalen bekannt war. Da sich die verwendeten mathematischen Verfahren im Prinzip auf alle interessierenden Daten gleichermaßen anwenden lassen: Familiennamenhäufigkeiten, Blutgruppenhäufigkeiten, Häufigkeiten sprachlicher Formen, Häufigkeiten in Brauch und Sitte, geographische Entfernungen (Luftlinie oder Straße), Häufigkeiten bestimmter wirtschaftlicher Aktivitäten oder sozialer Institutionen usw., eröffnet sich damit ein weites Feld für interdisziplinäre Forschungen. Familiennamenhäufigkeiten sind dabei der einfachste Weg, biologische Ähnlichkeit von Populationen innerhalb der letzten Jahrhunderte zu messen und mit der Ähnlichkeit in sozialen und wirtschaftlichen Sachverhalten zu vergleichen, was zu inhaltlichen Aussagen führt, wie sie keine der Einzelwissenschaften derzeit imstande ist zu leisten. [9] Unabhängig voneinander werden für jeden Sachverhalt Matrizen der Ähnlichkeit für die verglichenen Populationen errechnet, und die Differenzenmatrix zwischen diesen Ähnlichkeitsmatrizen (Dialekte und Familiennamen z.B.) liefert dann die neue inhaltliche Aussage. Es soll hier auf das Detail der statistischen Verfahren verzichtet werden, da der Linguist, wenn er sich nicht selbst in die Statistik einarbeitet, mit einem mathematisch geschulten Wissenschaftler zusammenarbeiten wird.
Linguistische und genealogische Arbeiten, bisher auch die in der historischen Demographie, zeichnen sich oft dadurch aus, daß mit sehr großem Fleiß ein oft riesiges Datenmaterial zusammengetragen worden ist, wobei Vollständigkeit für ein bestimmtes Gebiet oder einen bestimmten Personenkreis angestrebt wird. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich grundlegend von dem in vielen empirischen Disziplinen üblichem Vorgehen, bei dem mit Stichproben, beruhend auf einem statistischen Versuchsplan, die wissenschaftlichen Aussagen mit relativ geringerem Arbeitsaufwand und dabei gründlicherer Bearbeitung der Stichprobe erreicht werden. Stichproben von 2000-3000 Personen lassen bekanntlich Aussagen für Bevölkerungen von mehreren Millionen mit einer Fehlergrenze von unter 5% zu. Für den hier angesprochenen Sachverhalt bedeutet das, daß, wenn eine Fragestellung durch eine Forschungsgruppe gezielt angegangen wird, keine Totalerhebung des Untersuchungsgebietes erforderlich ist. In jedem Falle ließe sich eine Begrenzung der Stichprobe finden, die den Arbeitsumfang in bearbeitbaren Grenzen hält. Untersucht man ein bestimmtes Gebiet, dann braucht man nicht alle Orte zu erfassen, sondern nur eine Stichprobe von Orten, und nicht alle Namen, sondern nur eine Stichprobe von Namen mit bestimmten Anfangsbuchstaben.
Familiennamenhäufigkeiten sind Arbeitsgrundlage
verschiedener nichtlinguistischer Fachrichtungen geworden. Den Linguisten
darauf aufmerksam zu machen und sein Verständnis dafür zu gewinnen, das
Urmaterial (Steuerlisten, Kirchenbücher, Volkszählungslisten
[10]
usw.) in geeigneter Form mit aufzuarbeiten und zu publizieren, sind der Zweck
dieser kurzen Information, da dadurch – wie am Beispiel der Dialektverbreitung
und der Sprachsoziologie gezeigt werden kann – auch linguistische Fragen im
engeren Sinne einer Beantwortung näher gebracht werden.
[1] V. Weiss, Die Verwendung von
Familiennamenhäufigkeiten zur Schätzung der genetischen Verwandtschaft. Ein
Beitrag zur Populationsgenetik des Vogtlandes. Ethnographisch-Archäologische
Zeitschrift 15 (1975) 433-451.
[2] Weitere Literaturhinweise in: A. E. Imhof
(Hrsg.), Historische Demographie als Sozialgeschichte. Gießen und Umgebung von
17. zum 19. Jahrhundert. Darmstadt und Marburg: Selbstverlag der Hessischen
Historischen Kommission Darmstadt und der Historischen Kommission für Hessen
1975 (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 31); H.-U. Wehler
(Hrsg.), Historische Familienforschung und Demographie. Geschichte und
Gesellschaft 1 (1975) H. 2/3; W. Schaub, Die genealogische Datenbank im Dienste
der Wissenschaft. Genealogie 10 (1971) 577-585 und 630-637; V. Weiss, Eine neue
Methode zur Schätzung des Inzuchtkoeffizienten aus den
Familiennamenhäufigkeiten der Vorfahren. Biologische Rundschau 11 (1973)
314-315; V. Weiss, Geographische Distanz und genetische Identität von Personen,
geschätzt mittels Familiennamenhäufigkeiten der Vorfahren (Erzgebirge, Vogtland
– 16. – 19. Jahrhundert). Mitteilungen der Sektion Anthropologie der DDR 32/33
(1976) 107-115.
[3] H. H. Blotevogel, Zentrale Orte und
Raumbeziehungen in Westfalen vor der Industrialisierung. München: Aschendorff
1975; P. Schöller (Hrsg.), Zentralitätsforschung. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft 1972 (= Wege der Forschung 301).
[4] H. Buitenhuis, De representativiteit en
interpretatie van naamkundige gegevens voor het onderzoek van de spreiding der
familiennamen. Mededelingen van der Verenigung voor Naamkunde te Leuven en de
Commissie voor Naamkunde te Amsterdam 43 (1967) 145-165.
[5] N. Yasuda, L. L. Cavalli-Sforza, M. Skolnick und
A. Moroni, The evolution of surnames: an analysis of their distribution and
extinction. Theoretical Population Biology 5 (1974) 123-142: L. A. Bunimovic,
Ob odnoj charakternoj modeli ierarchiceskoj struktury populjacij celoveka.
Genetika (Moskva) 10 (1975) 134-143.
[6] J. F. Crow und A. P. Mange, Measurement of inbreeding from the frequency of marriages between persons of the same surname. Eugenics Quarterly 12 (1965) 199-203.
[7] Vgl. Anm. 1.
[8] D. Hatt und P. A. Parsons, Association between surnames and blood groups in the Australian population. Acta genetica 15 (1965) 309-318.
[9] R. S. Spielman, E. C. Migliazza, und J. V. Neel, Regional linguistic and genetic differences among Yamomama Indians. The comparison of linguistic and biological differentiation sheds light on both. Science 184 (1974) 637-644.
[10] Es gibt umfangreiche Vorarbeiten: oft auf private
Initiative einzelner Genealogen hin wurden in jahre- und jahrzehntelanger
Kleinarbeit ganze Landstriche verkartet, z.B. gibt es auch von der Stadt
Leipzig eine derartige Kartei, im Kreis Zwickau sind Kirchberg, Weißbach,
Bärenwalde, Stangengrün, Obercrinitz, Hartenstein, Zschocken, Wildbach u.a.
vollständig verkartet. – Für die Feststellung der Familiennamenhäufigkeiten
dürfte in der Regel eine Auszählung und Erfassung der Traubücher ausreichen,
und in den meisten Orten gibt es gute Register hierzu.
Zurück zur
Startseite