Vorgeschichte und Folgen des arischen Ahnenpasses: Zur Geschichte der Genealogie im 20. Jahrhundert. Arnshaugk 2013, 374 Seiten
Eine kurze Einführung in genealogische Arbeitsweisen.
Volkmar Weiss
(aus: Genealogie als historische Soziologie 1 (1983) 9-14 [Leipzig])
In den meisten Familien haben wir heute ein Buch der Familie (bei den Großeltern hieß es Familien-Stammbuch) und alte Familienfotos, die uns irgendwann einmal in die Hände fallen. Vielleicht sind es auch alte Geschichten von Glück und Unglück, die das Interesse an der Familienforschung wecken. In meiner Familie (der Familie des Verf.) war es die Geschichte von einem Urgroßvater, der 1894 als Bergmann auf einem Steinkohleschacht bei Zwickau tödlich verunglückte, als die Oma noch ein kleines Kind war und die Geschichte einer Urgroßmutter, die im Waisenhaus aufgewachsen war und vieles mehr. Und eines Tages kommt vielleicht der Gedanke, diese Überlieferung aufzuarbeiten, sie auf ihre Wahrheit zu überprüfen, die alten Fotos zu beschriften, alles zu ordnen und für die eigenen Kinder und Verwandten in geordneter Form zu überliefern. Auch damit sie aus der Geschichte lernen. Denn die großen Einschnitte der Geschichte, wie Krieg und Inflation, haben auch tragische Spuren im Leben der meisten Familien hinterlassen.
So beginnt jeder Familiendedektiv, jeder künftige Genealoge, einmal ganz von vorn. Mit Fragen an die eigenen Verwandten, an die Großeltern, Eltern, Onkel und Tanten, soll man beginnen. In ein großes Notizbuch trägt man sich die Daten und Ereignisse ein. Die Großeltern, sofern sie noch leben, erinnern sich an ihre eigenen Eltern und Großeltern, wie sie hießen, wo sie wohnten, ihren Beruf und ihr Leben. Sind die eigenen Eltern und Großeltern schon tot, sind wichtige Details und Hinweise oft unwiederbringlich verloren. Aber vielleicht erinnert sich noch eine alte Tante. Sie ist auch oft die letzte, die noch weiß, wer auf den alten Familienfotos abgebildet ist. Beim nächsten Besuch bei ihr beschriften wir die Fotos auf der Rückseite mit den Namen der Abgebildeten. Schon beim übernächsten geplanten Besuch könnte es zu spät sein.
Bereits vor über 100 Jahren gab es Fotografen, die als Wander-Fotografen von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt zogen und die einfachen Leuten vor ihren Häusern fotografierten. Ich hätte nie gedacht, wie viele Fotos von meinen Urgroßeltern - Arbeitern, Bauern und Handwerkern - sich bei weit entfernten Verwandten auftreiben lassen.
Heute sind es Dokumente von Aussehen, Kleidung und Lebensverhältnissen. Und manchmal eine überraschende Ähnlichkeit in den Gesichtszügen mit den Enkeln und Urenkeln. Es ist deshalb gut, auch die Bilder der Geschwister der Vorfahren mitzusammeln - Kinderfotos, Hochzeitsbilder u.ä. Haben wir die Bilder zusammen, dann schreiben wir die Biographie der Großeltern, Urgroßeltern, vielleicht auch noch von anderen Verwandten. Keine Romane, einige Seiten mit den wichtigsten Angaben und Ereignissen und mehr bei größerem schriftstellerischen Talent. Jetzt können wir die Familienchronik zusammenstellen.
Aber nur ein Exemplar würde wenig nützen. Wir wollen doch möglichst jedem unserer Kinder ein Exemplar geben, auch den eigenen Geschwistern, den Cousins und Cousinen. Nun müssen wir die wichtigsten Familienfotos und Urkunden reproduzieren, selbst oder bei einem Fotografen. Das Abschreiben des verbindenden Textes und der Biographien mit mehreren Durchschlägen ist dann noch einen tüchtige Arbeit. Auf jedem Fall sollte die fertige Arbeit bei einem Buchbinder gebunden werden. Und wir sollten mindestens ein Exemplar einer öffentlichen Bibliothek sowie der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden und der Zentralstelle für Genealogie in Leipzig schenken. Aus zweierlei Gründen: eine Familienchronik ist wenig, aber einhundert solcher Chroniken in einer großen Bibliothek sind für Wissenschaftler eine Fundgrube. Und sicher gibt es auch einmal entfernte Verwandte, für die die Chronik von Interesse ist.
Haben wir uns mit unserer nächsten Verwandtschaft befasst und eine Familienchronik zusammengestellt, so ist meist längst das Interesse erwacht, auch etwas über die weiter zurückliegenden Generationen zu erfahren. Nur in den wenigsten Familien finden wir bereits umfangreiche Unterlagen, die auch hier weiterhelfen. Wir sollten auch nicht damit rechnen, dass unsere Verwandten, die uns bei der Familienchronik gern unterstützt haben, weiterführenden Arbeiten allzuviel Interesse entgegenbringen. Von einem bestimmten Punkt an ist die Genealogie ein Hobby, das ein besonderes Interesse und leidenschaftliche Arbeit erfordert. Führen wir die Arbeit über die Familienchronik hinaus, so beginnt echtes Spezialistentum, das Spezialwissen voraussetzt, das sich jeder Genealoge in Jahren und Jahrzenten Erfahrung aneignet. Aber einmal ist jeder Anfänger, und wir wollen im folgenden die wichtigsten Probleme nennen, vor denen jeder Anfänger steht.
Mit den Unterlagen, die wir in der Familie zusammengetragen haben, werden wir in den meisten Fällen den Zeitraum bis 1875 überbrücken. Seither gibt es Standesämter, vorher nur Kirchenbücher. Die Kirchenbücher (Tauf-, Trau- und Totenbücher) befinden sich noch heute in den jeweiligen Pfarrämtern. Schriftliche Anfragen sind nicht zu empfehlen; man muss sich schon selbst auf den Weg machen. Die Benutzung der kirchlichen Archive in der Zuständigkeit der Ev.-luth. Landeskirchen regeln die Kirchenarchivordnungen (in Sachsen gemäß Amtsblatt 1974 A 5). Größere Orte besitzen Kanzleien, in denen man während der Öffnungszeiten arbeiten kann, in kleineren Gemeinden muss man die Benutzung mit dem Pfarrer vereinbaren. Die Gebühr für einen Arbeitstag beträgt 1,00 M, für jedes benutzte Buch zusätzlich 0,50 M. Jedoch ist ein angemessenes und bescheidenes Auftreten wichtiger als die gedruckte Benutzerordnung.
Ist uns nun z.B. aus der Heiratsurkunde der Urgroßeltern von 1892 bekannt, dass die Eltern der Urgroßmutter Karl Heinrich Leichsenring, Bauer in Reinsdorf Krs. Zwickau, und Christine Wilhelmine geb. Heinze hießen, so finden wir den Geburtseintrag der Urgroßmutter, Agnes Leichsenring, im Taufbuch von Reinsdorf am 18.10.1864, dann die Heirat ihrer Eltern in Reinsdorf am 26.11.1857. Bei der Heirat sind in den meisten Fällen die jeweiligen Eltern von Braut und Bräutigam angegeben. Nun suchen wir wieder zuerst nach der Taufe, dann nach der Heirat usw. Aber rasch stoßen wir auf Schwierigkeiten. Zum Beispiel stammt der Bräutigam aus einem anderen Ort, seine Taufe ist nicht mehr in Reinsdorf zu finden. Nun ist es höchste Zeit nach dem Sterbeeintrag zu suchen, bei dem meistens das Alter angegeben ist, aus dem sich das Geburtsjahr errechnen lässt. Und das brauchen wir, um den Richtigen aus der Vielzahl oft ähnlicher oder gleich lautender Namensträger herauszufinden. Oder der Vorfahr war mehrfach verheiratet, und wir müssen die richtige Mutter herausfinden, d.h. auch die Sterbedaten der Stiefmütter ermitteln.
So sind wir etwa bis 1800 vorangekommen. Aber dann, spätestens aber um 1750, steht der Anfänger vor einer neuen Hürde: Er kann die Schrift nicht mehr lesen. Hier hilft nur Üben und Lernen. Ich selbst habe diese Schrift wie eine Fremdspache lernen müssen. Für Archivare gibt es dazu spezielles Lehrmaterial, das man in einer Bibliothek ausleihen oder einsehen muss. Sehr zu empfehlen ist:
Lehrbrief Paläographie.
Fachschule für Archivwesen, Potsdam o.J.
Santifeller, L.: Bozener
Schreibschriften der Neuzeit. Jena 1930.
Sturm, H.: Einführung in
die Schriftkunde. München-Pasing 1955.
Für das 16.Jahrhundert:
Kobuch, M. und E. Müller: Der deutsche Bauernkrieg in Dokumenten.
Weimar 1977.
Alle diese Bücher enthalten auf der einen Seite die
Fotokopie eines Originals, auf der gegenüberliegenden eine
buchstabengetreue Umschrift. Nun hilft nur geduldiges Vergleichen
und Üben (auch Selber-Nachschreiben, wochenlang täglich mindestens
eine Stunde).
Dringt der Familienforscher dann weiter vor - gar
bis ins 17. und 16. Jahrhundert- in Sachsen beginnen die
Kirchenbücher in mehreren Orten bereits 1548 - , dann treten immer
neue und schwierigere Probleme auf. Mit der Verdopplung der Zahl der
Vorfahren in jeder Generation (in der zehnten Vorfahrengeneration
Ausgang des Dreißigjährigen Krieges sind es bereits 1024) weitet
sich das Bild von einer persönlichen Liste aus zur Heimat-, Sozial-
und Wirtschaftsgeschichte ganzer Dörfer, in denen sich besonders
viele Vorfahren konzentrieren. Von diesen Berührungspunkten handeln
die anderen Beiträge dieses Heftes.
Aber soweit sind wir noch
längst nicht: Eine Schwierigkeit, vor der jeder Anfänger steht, ist
die zweckmäßige Anordnung seines Arbeitsmaterials. Es empfehlen sich
große A3-Blätter karierten Papiers, auf die man in den Pfarrämtern
sich Notizen macht, dabei von links nach rechts eine Ahnentafel
skizzierend mit den Namen und Daten. Zu Hause wird alles in
Reinschrift übertragen oder auf Karteikarten.
Jeder hat eine
etwas andere Arbeitsweise, die auch davon abhängt, ob er mit dem
Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln bzw. dem Rucksack
unterwegs ist. Der Proband (man selbst oder seine Kinder) erhält die
Nr. 1, der Vater des Probanden die Nr. 2, die Mutter die 3. Der
Vater des Vaters dann wieder die verdoppelte Zahl, also 2*2=4, die
Großmutter (seine Frau) 2*2+1=5, der Vater der Mutter die 6 und so
weiter. Eine zweckmäßigere Bezifferung als diese gibt es
nicht.
Sucht man im Zeitraum zwischen 1700 und 1800, so wird man
rasch auf all die Schwierigkeiten stoßen, die die Genealogie zur
„Kriminalistik des kleinen Mannes“ machen. Orte und Ortsteil werden
als Heimatorte unserer Vorfahren genannt, und nur ein sehr gutes
Ortslexikon kann uns weiterhelfen. Um herauszufinden, zu welchem
Pfarramt denn dieser Ortsteil früher gehört hat, müssen wir
nachschlagen in:
Köhler, H.: Sippenkundliche Quellen der ev.-luth. Pfarrämter Sachsens. Dresden 1938.
Mit
Schrecken werden wir feststellen, dass die Familiennamen, je weiter
wir zurückgehen, desto veränderlicher werden in ihrer Schreibweise,
auch die Vornamen nicht zuverlässig sind, die Altersangaben bei den
Sterbeeintragungen oft nur geschätzt sind. Sind bei der Trauung die
Eltern des Bräutigams nicht angegeben und kein Heimatort, dann haben
wir einen „Toten Punkt“. Und darüber, wie man diese überwindet,
könnte man ganze Lehrbücher schreiben.
Spätestens zu diesem
Zeitpunkt sollte der angehende Genealoge - denn das wird er nun
schon - in eine größere Bibliothek gehen, um sich aus Büchern und
Zeitschriften über Genealogie (unter Hilfswissenschaften der
Geschichte eingeordnet) Anregungen und Belehrungen
einzuholen.
Manchmal wird der Rat gegeben, sich jede
Kirchbucheintragung wörtlich abzuschreiben oder gar beglaubigen zu
lassen oder zu fotografieren. Die Meinungen dazu sind geteilt. Man
muss lernen, alle wesentlichen Dinge zu notieren: Am Anfang kam ich
einmal nicht weiter, weil ich vergessen hatte, den Namen des
Regiments zu notieren (einfach weil ich ihn nicht lesen konnte und
auch nicht fotografieren), unter dem ein Soldat, Vater eines
unehelichen Kindes, diente. Aber mit der Regimentsbezeichnung konnte
der Soldat dann später in den Musterungslisten der Heeresbestände
des Staatsarchivs Dresden gefunden werden und somit sein Heimatort.
So müssen auch bei Bauern die Namen der Grundherren notiert werden,
da man dann in den Gerichtsbüchern die Kaufverträge für das Gut
finden kann. Denn beim Fortschreiten der Arbeit kommt man dann von
den Kirchenbüchern zu anderen Quellen, die die soziale Stellung der
Vorfahren belegen oder „Tote Punkte“ überwinden helfen.
Es
empfiehlt sich wenig, einen einzelnen „Ahnenschlauch“ bis zum Jahre
1548 zu legen, man sollte besser versuchen, in allen Linien
einigermaßen gleichmäßig voranzukommen und sich so allmählich
Quellen- und Schriftkenntnis zu erarbeiten. Also versucht man, die
der Gegenwart zeitlich nächste Lücke auszufüllen und in dem
betreffendem Ort so weit zu kommen, wie man an dem Tag Zeit hat und
die Quellen reichen. Man muss sich im klaren sein, dass man an jeden
Ort sowieso im Laufe der Jahre noch drei- oder viermal zurück muß,
wenn sich in späteren Generationen neue Querbezüge ergeben.
Ist die Ahnenliste etwa bis zum Jahr 1700 in der Mehrzahl der Linien fertig, so sollte man sich an die Zentralstelle für Genealogie in Leipzig wenden und einen Vordruck anfordern, nach dessen Vorbild man seine Ahnenliste maschinenschriftlich zu Papier bringt. Das fertige und gebundene Exemplar reicht man dann ein (ein weiteres Exemplar an die Sächsische Landesbibliothek) und wird erstaunt sein, wie viele Berührungspunkte sich mit anderen Genealogen aus dem Vergleich mit der Ahnenstammkartei ergeben. Das hilft uns dann wieder Arbeit und Fahrgeld zu ersparen, ebenso die Teilnahme am Ahnenlistenumlauf der Zentralstelle. Mit der Einsendung unserer Ahnenliste haben wir sozusagen als Genealoge unseren Gesellenbrief gemacht.
Manchen
wird die wachsende Lawine der Vorfahren eher erschrecken, und er
möchte lieber alle heute lebenden Nachfahren (d.h. seine
Seitenverwandten) etwa seiner Urgroßeltern, erfassen. Auch das ist
ein legitimer Zweig der Familienerforschung, aber ein noch
schwierigerer. Denn über die genaue Zahl der Nachkommen einer
Familie und noch weniger über ihren Verbleib, gibt keine Quelle
Auskunft, und es beginnt eine ganz schwierige Suche in Adress- und
Telefonbüchern, in den Todesannoncen der Tageszeitungen. Bewegen wir
uns dabei auf die Gegenwart zu, werden wir auch mit berechtigten
Fragen des Datenschutzes konfrontiert.
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