Neu: Vorgeschichte und Folgen des arischen Ahnenpasses: Zur Geschichte der Genealogie im 20. Jahrhundert. Arnshaugk 2013, 374 Seiten

Volkmar Weiss: Die Intelligenz und ihre Feinde: Aufstieg und Niedergang der Industriegesellschaft. Graz 2012, 544 Seiten

2. Auflage, überarbeitet und erweitert: Volkmar Weiss: Das Tausendjährige Reich Artam: Die alternative Geschichte der Deutschen 1941-2099. Arnshaugk 2011, 383 Seiten


Deutschland in Geschichte und Gegenwart 51, Nr. 2 (Juni 2003) S. 13-16

 

Vor der demographischen Implosion

 

Volkmar Weiss

 

Es gibt nur wenige wissenschaftliche Disziplinen, die mit der Politik in einer so engen Wechselbeziehung stehen, wie die Bevölkerungswissenschaft. Beide, Politik und Demographie, befassen sich mit der Zukunft. Jedes politische Programm ist irgendein Zukunftsentwurf. Die deutschen Bevölkerungswissenschaftler jedoch enthalten sich einer wirksamen politischen Meinung:  Wenn die Wissenschaftler eine Bevölkerungsprognose für die nächsten Jahrzehnte berechnen,  so gehen sie von der Gegenwart bzw. der Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte aus und der Annahme, daß sich diese Entwicklung fortsetzt. Ihre Prognosen sind Zahlen, die auf der Annahme beruhen, daß es in absehbarer Zukunft, also in den nächsten 20 bis 40 Jahren, zu keinen schwerwiegenden Veränderungen und Katastrophen kommt. V. Weiss fragt hier, ob ein politisches Engagement der Bevölkerungswissenschaftler zu erwarten ist oder weiterhin eine bloße Registrierung des Niedergangs?

 

Für den akademischen Traditionen verpflichteten Demographen ist die Politik nur eine Randbedingung, die innerhalb einer bestimmten Schwankungsbreite zu Varianten der vorhergesagten Bevölkerungszahlen führen kann. Er selbst, der Demograph, kann bestenfalls auf diese möglichen Varianten als Folge politischen Handelns aufmerksam machen, im übrigen habe er sich von der Politik fern zu halten.

Das war nicht immer so. Als in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts deutlich wurde, daß der starke Geburtenrückgang keine auf Frankreich beschränkte Erscheinung bleiben würde, sondern auch Mitteleuropa davon voll erfaßt wird, gab es sehr bald Bevölkerungswissenschaftler, die sich in wissenschaftlichen und populären Schriften mit den voraussichtlichen Folgen dieses Geburtenrückgangs befaßten, mit dem klaren und ausgesprochenen Ziel, politisches Handeln zu veranlassen und zu beeinflussen. Der erfolgreichste dieser Männer war zweifellos Friedrich Burgdörfer (1890-1967), als Direktor der Abt. Bevölkerungsstatistik des Reichsamtes Berlin zuständig für die Bevölkerungszählungen 1925, 1933 und 1939. 1932 erschien die 1. Auflage sein Hauptwerkes „Volk ohne Jugend. Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers. Ein Problem der Volkswirtschaft, der Sozialpolitik, der nationalen Zukunft“, das mit seinen folgenden Auflagen in seiner Zeit die Grundlage aller bevölkerungspolitischen Diskussionen bildete. Nimmt man dieses Buch heute, 70 Jahre nach seinem Erscheinen in die Hand, dann ist man von der Aktualität der Burgdörferschen Prognosen beeindruckt; allerdings um etwa eine Generation (d.h. rund 30 Jahre) zeitversetzt, mit allen schon von Burgdörfer vorhergeahnten Folgen für die Sozialsysteme und die Entwicklung der Lohnnebenkosten. Der von Burgdörfer für das Jahr 1975 vorhergesagte Altersaufbau der Bevölkerung ist für uns die Wirklichkeit des Jahres 2005.

(Hier vielleicht eine Abbildung mit dem von Burgdörfer 1932 vorhergesagten Altersaufbau für 1975 einfügen und den Altersaufbau von 2001 oder 2002 im Vergleich daneben.)

Burgdörfer hat auch gar keinen Wert darauf gelegt, mit seiner Prognose zeitgenau recht zu behalten. Statt dessen wollte er vor der Entwicklung warnen und zu politischem Handeln aufrufen. Die Partei, die damals für eine derartige politische Einsicht offen war und ab 1933 auch die Macht zum Handeln hatte, war die NSDAP.  Zwischen 1933 und 1939 kam es zu einem deutlichen Wiederanstieg der Geburtenzahlen, von 999 600 Geburten im Jahre 1933 im alten Reichsgebiet auf 1 446 200 im Jahre 1939. [1] Das heißt ein Anstieg um fast ein Drittel bis auf eine Höhe, die mit dem erreichten Stand von 1939 zur Erhaltung der Einwohnerzahl (dem Selbstreproduktionsniveau in der Terminologie der Demographie) ausgereicht hätte.  D. h., von 1934 bis 1939 wurden 1 454 300 eheliche Kinder mehr geboren, als wenn die Geburtenzahl so niedrig geblieben wäre wie 1933. Dieser Wiederanstieg war zwar nicht so stark, wie ihn einige nationalsozialistische Politiker wünschten und dann im Krieg auch aus Gründen der langfristigen nationalen Machterhaltung forderten. Während sich im I. Weltkrieg die Zahl der Geburten 1916 bis 1918 halbiert hatte, wurden selbst 1943 bis 1945 noch 70% des Geburtenniveaus von 1939 und 1940 erreicht. In keinem Jahr davor oder danach sind so viele Tschechen (für die im Protektorat alle Vergünstigungen für Mütter mit Kinder auch galten) geboren worden wie 1944. Angesichts dieser relativ erfolgreichen Phase einer Bevölkerungspolitik haben etablierte Demographie-Beamte heute ihre Probleme damit: Da nicht sein kann, was nicht sein darf, so wird so ziemlich jedes Argument vorgebracht, mit dem diese Bevölkerungspolitik als wirkungslos oder im Ansatz und Wollen verbrecherisch charakterisiert werden kann, um irgendein Anknüpfen in der Sache unmöglich zu machen und damit zugleich die eigene Unwirksamkeit zu entschuldigen. Die deutschen Demographen mußten sich sogar die Meinung zueignen, daß die Erhöhung der Geburtenzahlen zwischen 1933 und 1945 nur ein „Vorziehen oder Nachholen von Geburten“ (das spielte sicher eine Rolle) war und keinerlei langfristigen Effekt gehabt hätte. Nur leben viele der damals Geborenen heute noch als lebendiger Gegenbeweis und haben vor allem zwischen 1965 und 1985 jahrzehntelang und kräftig in die Rentenkasse eingezahlt.  Nach 1945 hat kein Geburtsjahrgang jemals wieder die zahlenmäßige Stärke der beiden Jahre 1939 und 1940 erreicht.

Burgdörfer selbst konnte sich bestimmten Verpflichtungen seines Amtes nicht entziehen, die sein Wirken angreifbar machen. So lieferte er 1940 ein Gutachten „Zur Frage der Umsiedlung der Juden“, in dem die Tragfähigkeit von Madagaskar für jüdische Siedler diskutiert wurde (ein Projekt, über das 1938 Polen, die USA und das Deutsche Reich mit Frankreich verhandelt hatten, und über das auch ein als Buch gedruckter Bericht einer polnischen Regierungskommission [2] , die deswegen Madagaskar besucht hatte, vorliegt). „Burgdörfer ist, wenn auch einige seiner Formulierungen die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik gestützt haben mögen, wissenschaftlich unabhängig und sauber geblieben“, glaubte ihm 1960 der Abteilungsleiter im Statistischen Bundesamt Kurt Horstmann  bescheinigen zu können. [3]

Falsch war Burgdörfers Prognose eines unmittelbar drohenden Rückgangs der absoluten Bevölkerungszahl und des Einwanderns „fremdstämmiger“ Arbeitskräfte. Im Gegenteil: Die Entwicklung der Einwohnerzahl wurde nach dem Kriege erst einmal jahrzehntelang überdeckt durch die Millionen Heimatvertriebenen und durch Flüchtlinge aus der DDR. Politische Forderungen, wie die schon 1955 von Wolfgang Schreiber vorgeschlagene Einführung eines kostendeckendes Kinder- und Erziehungsgeldes, das Kinderlose zur Ansparung ihrer eigenen Rente verpflichtet hätte, als notwendige Ergänzung zu der ebenfalls von Schreiber vorgeschlagenen und bis heute wirksamen dynamischen Rentenformel, hatten damals keine Chance, verwirklicht zu werden. [4] Bevölkerungspolitik war aber kein Tabuthema, wie die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft 1952 und der Deutschen Akademie für Bevölkerungswissenschaft durch Hans Harmsen belegt. Burgdörfer wurde Ehrenmitglied dieser Akademie und vertrat die deutsche Bevölkerungswissenschaften wieder auf mehreren internationalen Kongressen.

Der Generationswechsel um 1970 jedoch verschob die Perspektiven in entgegengesetzte Richtungen: Einerseits wäre wirksame Bevölkerungspolitik gerade ab diesem Zeitpunkt notwendig geworden, andererseits wurde gerade eine solche Politik ab dieser Zeit gründlich verteufelt. Der Pillenknick verstärkte einen nach 1965 sich verstärkenden und bis dahin eher langsamen Geburtenrückgang. Als 1973 das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung gegründet wurde, war die Zahl der Geburten bereits auf 1,5 pro Frau [5] zurückgegangen. Zur gleichen Zeit war aber endlich auch die Bewältigung der Vergangenheit der deutschen Bevölkerungswissenschaft durch die 68er in Gang gekommen. Zielscheibe der Angriffe war vor allem Hans Harmsen (1899-1989), der herausragendste Vertreter der deutschen Bevölkerungswissenschaft der Nachkriegszeit. Geprägt durch Wandervogel und Freideutsche Jugend, war 1933 die Habilitation des kirchennahen Mannes abgelehnt worden und Harmsen erst 1946 zum Professor für Sozialhygiene berufen worden. Seine Biographen, die selbst das Privileg hatten, nie unter den Zwängen eines Staates gelebt haben zu müssen, dem das Überleben der Gemeinschaft wichtiger ist als das Leben des Einzelnen, entdeckten nun Anstößiges bereits in seinen frühen Schriften. Im Mai 1971 hatte sich Harmsen gar zum Thema „Zum Geburtenrückgang in der Bundesrepublik Deutschland“ u.a. folgendermaßen geäußert: „Eine beachtliche Zahl von ausländischen Arbeitskräften sind bereits sieben oder mehr Jahre in der BRD – sie sind Einwanderer geworden, deren Probleme hinsichtlich Wohnung und Erziehung der Kinder nicht allein mit ausländerpolizeilichen Maßnahmen geregelt werden können.“ [6] Diese inhaltliche Verknüpfung von eigenem Geburtenrückgang mit zunehmenden Einwanderungsdruck und damit mit der Notwendigkeit einer langfristigen, auch an der Bevölkerungsqualität orientierten Einwanderungspolitik (die es ja bis heute nicht gibt), brachte nicht nur den deutschen Blätterwald zum Rauschen, der sich darin zu üben begann, die „Politische Korrektheit“ zu installieren und die Nähe von Harmsen zur nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik zu entdecken glaubte, sondern auch die Auflösung der Deutschen Akademie für Bevölkerungswissenschaft. Die einzige erlaubte politische Lesart war damals, daß die ausländischen Arbeitnehmer wieder in ihre Ursprungsländer zurückkehren würden. Dreißig Jahre später und klüger kann man darüber entweder Lachen oder den Kopf schütteln, aber das ganze Dilemma der deutschen Demographie wird bereits an diesem Konflikt deutlich. Denn in den folgenden Jahrzehnten war bei der Leitung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, in den leitenden Gremien der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft und bei der Besetzung der wenigen akademischen Stellen auf diesem Fachgebiet ein gerütteltes Maß Anpassung an den Zeitgeist die erste Bürgerpflicht. Wer ausscherte, dem drohte der Verlust der beruflichen Stellung und die Ächtung durch seine Kollegen. Nur Personen, die sich sowieso schon mehr oder weniger außerhalb dieses engeren demographischen Zirkels bewegten, konnten es wagen und wagten es, ihre Stimme zu erheben. So unterzeichneten 1981 zwanzig deutsche Universitätsprofessoren das „Heidelberger Manifest“, das im selben Jahr zur Gründung des „Schutzbundes für das deutsche Volk“ führte. [7]

Noch einmal konnte die alte Bundesrepublik um 1990 durch die Wiedervereinigung und durch Millionen Spätaussiedler und Übersiedler aus der früheren DDR die Folgen ihrer eigenen Politik und eigenen demographischen Entwicklung dämpfen. Die DDR-Führung hatte nach 1970 die fatalen Folgen des Geburtenrückgangs erkannt und mit einer ausgesprochen kinderfreundlichen Politik wenigstens teilweise erfolgreich gegengesteuert. Außerordentlich erfolgreich war die Förderung von Studentinnen mit Kindern. Während in der DDR bis 1990 weniger als 10% aller Frauen mit einem Studium ohne Kind blieben, waren und sind es in der alten Bundesrepublik über 40%. [8]

Inzwischen schreiben wir das Jahr 2003. Nachdem 35 Jahre lang in der alten Bundesrepublik die Geburtenzahlen viel zu niedrig sind, um die Sozialsysteme intakt zu halten, und 20 oder 30 Jahre verloren worden sind, in denen die Politik hätte gegensteuern können und müssen (so wie das Frankreich mit seiner noch viel längeren Erfahrung mit niedrigen Geburtenzahlen, aber einer intakten und selbstbewußten demographischen Forschung und problembewußter Politik im gleichen Zeitraum teilweise gelungen ist), tagen überall und ständig Kommissionen,  die außer den nun unumgänglichen Sparvorschlägen keinen vorwärtsweisende Gedanken produzieren, wie die noch auf Jahrzehnte absehbare weitere Verschlechterung der Rahmenbedingungen des Industriestandorts Deutschland irgendwie gedämpft werden könnte, denn von Vermeiden der Folgen kann nun für die unmittelbaren nächsten 20 Jahre keine Rede mehr sein. Weil Bevölkerungswissenschaftler wenige Jahrzehnte vorausblicken, demokratisch gewählte Politiker nur bis den nächsten oder übernächsten Wahlen, sind die deutschen Bevölkerungswissenschaftler zutiefst beunruhigt. Während die einen verzweifelt nach Möglichkeiten suchen, ihren Warnungen Gehör zu verschaffen, meinen andere, es sei gar schon zu spät. Denn die Früchte einer jetzt konzipierten und sogar durchgesetzten deutschen Bevölkerungspolitik könnte man nämlich erst ab 2030 ernten. Prof. Herwig Birg, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demographie, prognostiziert in seinem Buch „Die demographische Zeitenwende“ (München 2001), daß die Deutschen bereits ab 2010 in einer Vielzahl von westdeutschen Großstädten bei der aktiven Bevölkerung die Minderheit sein werden.

Zu spät sollte es nie sein, doch mittelfristig gibt es nur eine gesunde Möglichkeit: Ein Wiederanstieg der deutschen Geburtenzahlen. Etwa 10% Einwanderer pro Generation hat eine wirtschaftlich intakte Gesellschaft stets assimilieren können. Ein Drittel zu niedrige Geburtenzahlen (wie das 1932/33 schon einmal war und nunmehr seit 30 Jahren der Fall ist), und ihre zahlenmäßige Ergänzung durch Einwanderer – für dieses Szenario gibt es noch kein Beispiel, daß das ohne tiefgreifende Existenzkrise abgehen kann. [9] Vor 1820 hatte jede blühende große Stadt eine negative Bevölkerungsbilanz, fehlende Geburten wurden immer wieder durch Einbürgerungen ersetzt. Jede Stadt erschwerte aber Fremden, Fuß zu fassen, und schützte sich so gegen einen zu starken Zuzug. In mancher Beziehung sind hochentwickelte Industrieländer heute so etwas wie große Weltstädte geworden. Auf dieser Analogie gründet sich ein gewisser neoliberaler Optimismus, der davon ausgeht, daß wenn es gelingt, qualifizierte Zuwanderer in eine freie Wirtschaft und freie Gesellschaft zu integrieren, uns vor der Zukunft in einem Land, das nach wie vor eine Weltmacht im Export ist, nicht bange zu sein braucht. Eine Voraussetzung ist ferner, daß die Einwanderer so verschiedenen Ursprungs sind, daß sie auch zur Verständigung untereinander sich der Sprache ihrer neuen Heimat bedienen müssen, d.h. die Herausbildung anderssprachiger Ghettos sollte nicht stattfinden. (Ein Punkt, der klar gegen eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei spricht.) Man muß es zur Kenntnis nehmen, und auch daraus die richtigen Schlüsse ziehen: Bisher waren alle Vorhersagen der Demographen über sinkende absolute Bevölkerungszahlen (auch die von Burgdörfer) falsch, solange es sich um wirtschaftlich relativ blühende Staaten gehandelt hat. Z.B. sagte Ferdinand Oeter im Jahre 1983 ein Absinken der Wohnbevölkerung der alten Bundesrepublik Deutschland (ohne Berlin) von 57 Millionen auf 52 Millionen schon im Jahr 2000 voraus. [10] Das ist nicht eingetreten – im Gegenteil, die Einwohnerzahl ist in diesem Gebiet auf über 60 Millionen gestiegen - und wir dürfen deshalb mit einiger Berechtigung vermuten, daß ähnliche Prognosen ebenfalls falsch sein werden. Bisher wurde das eigene Geburtendefizit stets durch Einwanderer aufgefüllt und sogar mehr als aufgefüllt, solange es wirtschaftlich vorwärts ging. Rußland aber hat heute, ebenso wie bereits das Gebiet der früheren DDR, tatsächlich eine sinkende Einwohnerzahl! Wir sollten also davon ausgehen, daß, wenn es gelänge, in den nächsten Jahren durch die Bindung der Rente an die Zahl der eigenen Kinder eine Wende der deutschen Geburtenentwicklung herbeizuführen, dann Grund zu einigem Optimismus gegeben wäre. Wir sind an diesem Wendepunkt angelangt. Auf die Dauer wird die Wirtschaft in den Strudel gerissen werden, wenn sich die Rahmenbedingungen (Lohnnebenkosten) mittelfristig und ohne irgendeine Besserung in Sicht immer ungünstiger gestalten. Um das vorherzusehen, bedarf es keiner Schwarzmalerei. Die Zeichen der Zeit sind inzwischen eindeutig, doch geht es dem Durchschnitts-Bundesbürger noch viel zu gut. Noch. Doch wer sagt dem kinderlosen dreißigjährigen Deutschen heute, daß, wenn er keine Familie gründet, um 2040 in einer veränderten Welt leben wird, die ihm dann keine angemessene Rente mehr zahlen kann und vermutlich auch nicht mehr will. Selbst in den USA werden wegen der Kinderarmut seiner seit Generationen staatstragenden Bevölkerung Veränderungen mit einer ähnlichen Dynamik stattfinden. [11]

Wie aber eine derartige Einsicht in absehbarer Zeit in politisches Handeln und Gesetze umsetzen, denn inzwischen zählt eigentlich schon jeder Monat? Karl Schwarz, der ab 1968 Leiter der Abteilung für Bevölkerungsstatistik im Statistischen Bundesamt war und mehrere Jahre lang Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, inzwischen im Ruhestand, schrieb am 24.2.2003 in der „Frankfurter Allgemeinen“ unter der Überschrift „Fruchtlose Kommissionen“ resigniert: „Schon wieder eine Kommission über Folgen und Bewältigung des demographischen Wandels. Auf meinen Tisch liegen 1500 Seiten Bundestagsdrucksache der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags aus acht Sitzungsjahren. ... Schon vor 15 Jahren haben die ehemaligen Bundesregierungen und die Bundesländer ähnliche Berichte unter der Mitarbeit von wahrscheinlich tausend Beamten vorgelegt, die keine Nachwirkungen hatten. So wird es wohl weitergehen.“ Es ist kein Wunder, daß es bei dieser Stimmung unter den Fachvertretern der Demographie eher Außenseiter sind, die sich in qualifizierter Weise zu Wort melden. In der letzten Zeit ist es vor allem dem Physiker Prof. Hermann Adrian durch Vorträge und hervorragend gestaltete Materialien im Weltnetz [12] gelungen, auf die Probleme aufmerksam zu machen. Sein Sohn Axel Adrian organisierte am 17.5.2003 in Naila eine längst fällige Diskussion zwischen Fachvertretern und Politikern.

Es ist jedoch eine elementare Weisheit, daß Politiker nur unter Druck handeln, und es ist die als Schranke aufgebaute politische Abstinenz, die die deutschen Demographen hindert, politischen Druck aufzubauen und wirksam zu werden. Konsequent und ernsthaft ist das Thema Bevölkerung bisher nur von den deutschen Rechtsparteien artikuliert worden. Nicht immer mit den geschicktesten Formulierungen und Forderungen, aber daran könnte man ja Kritik üben, sobald man gewillt ist, diesen Teil des politischen Spektrum mit in eine politische Druckkulisse einzubeziehen. Aber welcher deutsche Professor wagt es, kann es wagen, der Einladung einer als „rechts“ gebrandmarkten Organisation oder Partei zu einem öffentlichen Vortrag zu folgen? Doch, es gäbe da schon welche, nahe dem Pensionierungsalter, die sich entweder ewig unruhig im Grabe wälzen müßten, weil sie letztendlich in ihrer beruflichen Sendung versagt haben, oder jetzt das tun können und müssen, wovor sie jahrzehntelang zurückgescheut sind: Überall dort ihre Meinung zu sagen, wo sie gehört wird und auf fruchtbaren Boden fällt. Die Grünen haben es vorexerziert, wie man aus einer politischen Ecke heraus gesellschaftliche Probleme in die Mitte der Gesellschaft trägt und die trägen großen Parteien zum Mitdenken, Umdenken und teilweise sogar zum Handeln zwingt. Niemand verlangt von einem deutschen Professor für Demographie, daß er einer gemeinhin als „rechts“, „populistisch“ oder „national“  klassifizierten Partei beitritt. Was man aber erwarten kann, ist so viel Zivilcourage, daß er als Fachmann überall und stets zur Sache spricht, sei es nun vor der Rosa-Luxemburg-Gesellschaft [13] , der Gesellschaft für freie Publizistik oder der Deutschen Studiengemeinschaft.



[1] Die Zunahme der Geburten von 1933 bis 1939. Die Wiederbelebung des Fortpflanzungswillens des deutschen Volkes.  In: Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik 12 (1942) S. 119-128.

[2] Mieczyslaw B. Lepecki, Madagaskar. Kraj – Ludzie – Kolonizacja. Warszawa 1938.

[3] Zitiert nach Bernhard vom Brocke, Bevölkerungswissenschaft – Quo vadis? Möglichkeiten und Probleme einer Geschichte der Bevölkerungswissenschaft in Deutschland, Opladen 1998, S. 89.

[4]   Volkmar Weiss, Die IQ-Falle: Intelligenz, Sozialstruktur und Politik, Graz 2000. - http://www.v-weiss.de/iq-falle.html

[5] Heute sind es bei deutschen Frauen nur noch etwa 1,2 Geburten.

[6] Zitiert nach: Hermann Arnold, Bevölkerungswissenschaft 1952-1995. Vom Niedergang einer politiknahen Disziplin, Landau/Pfalz 1996, S. 15.

[7] Hubert Dröscher,  Substanzerhaltung und Zukunftssicherung des Deutschen Volkes. Bevölkerungspolitik: Demographischer Wandel und Zuwanderung. Schriftenreihe der Deutschen Studiengemeinschaft 3 (2003), S. 26-46.

[8] Volkmar Weiss, Zur Vererbung der Intelligenz, zu Sozeialstruktur und Familienpolitik: Eine Nachbetrachtung zum Bericht PISA 2000. In: Wege aus der Krise. Für ein lebensrichtiges Menschenbild. Kongress-Protokoll 2002 Gesellschaft für Freie Publizistik, S. 31-59. - http://www.v-weiss.de/pisa3.html

 [9] Volkmar Weiss, Wann schlägt eine demographische Krise in eine nationale Existenzkrise um? In: Bevölkerungspolitik. Demographischer Wandel und Zuwanderung. Schriftenreihe der Deutschen Studiengemeinschaft 3 (2003), S. 47-65. - www.v-weiss.de/krise.html

[10] Ferdinand Oeter, Die Zerstörung des deutschen Volkes durch das System der sozialen Rentenversicherung, In: Hessisches Ärzteblatt Nr. 10 (1983) S. 782-784.

[11] Patrick Buchanan, Der Tod des Westens. Geburtenschwund und Masseneinwanderung bedrohen unsere Zivilisation. Selent 2002.

[13] Denn auch auf dem linken Flügel gibt es sachlich richtige Einsichten, z.B. bei Manfred Sohn,  Die Nation schrumpft. Gibt es einen Zusammenhang von Kapitalismus und Geburtenrate? Zur Ökonomie untergehender Gesellschaften,  Teil I: Auf absterbendem Ast, Junge Welt 17.2.2002; Teil II: Immer tiefer ins demographische Loch, Junge Welt 18.2.2003.

P. S. 26.8.2003: Daß eine Bevölkerung, in der in 60 Jahren 3 Generationen aufeinanderfolgen statt 2 in einer anderen, sich um 150% stärker vermehrt, ist eine Binsenweisheit für jeden, der evolutionär denken kann. Daß bei Fruchtbarkeitsziffern pro Frau auch irgendwie immer der Zeitfaktor berücksichtigt werden muß, ist für mich so selbstverständlich, daß ich mir niemals vorstellen konnte, daß man bei den offiziellen Statistiken jahrzehntelang mit unkorrigierten Zahlen gearbeitet hat. Offensichtlich aber doch.

Siehe http://www.welt.de/data/2003/08/19/155352.html

FDP-Politiker MdB Daniel Bahr: In Deutschland kriegen die Falschen die Kinder

Welt am Sonntag: Über die Vererbung von Intelligenz und die gesellschaftlichen Folgen

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