DAS REICH ARTAM: Die alternative Geschichte der Deutschen in Ost und West 1941 - 2099, Erster Teil, Kapitel V
Im
Speisesaal hatte sich an der Ausgabe eine kleine Schlange gebildet. So
großzügig der Saal auch angelegt war, in den Spitzenzeiten ließ sich das nicht
ganz vermeiden. Es gab wie an jedem Tag vier Gerichte zur Auswahl (mindestens
drei davon ohne Schweinefleisch), dazu Salate, Joghurt und alkoholfreie
Getränke. Kaum war einem der Geruch der Speisen in die Nase gestiegen, konnte
man bei einem der Roboter bestellen und sein Tablett mitnehmen, wenn man nicht
schon vom Arbeitszimmer aus seine Bestellung elektronisch aufgegeben hatte.
Rauchen war, wie überall im Haus, auch hier streng verpönt.
„Gut,
daß ich dich treffe“, sagte eine Stimme hinter Adrian.
Er
wandte sich um. Da stand sein Freund, Hauptsturmführer Hermann Ahlfen, der in
der Abteilung für Veröffentlichungen arbeitete. „Freund“ war vielleicht nicht
die richtige Bezeichnung. Man hatte im Schwarzen Korps kaum Zeit für
Freundschaften, denn man hatte Kameraden, Nachbarn, Gefährten und
Kampfgefährten, darunter einige Kameraden, deren Gesellschaft angenehmer war
als die anderer. Ahlfen war Politwissenschaftler, ein Spezialist für
Rassenschichtenlehre. Er gehörte zu der Arbeitsgruppe, die schon seit acht
Jahren an der elften Auflage der Rassenschichtenkunde arbeitete. Acht, weil der
Stellenplan der Gruppe im Laufe dieser Jahre um mehr als die Hälfte gekürzt
worden war. Er war so groß wie Adrian, aber schlanker, mit für einen Atlantiker
sehr dunklem Haar, aber blauen Augen, die oft spöttisch blinzelten und dem
Blick des Gegenüber während eines Gesprächs nie auswichen.
„Ich
wollte dich mal fragen, ob du nicht ein paar Tabletten Erekton für mich hast“,
sagte er leise, aber für Adrian dennoch verständlich.
„Keine
einzige!“, sagte Adrian ohne zu Zögern. „Ich habe es überall probiert. Es gibt
einfach keine mehr.“
Unter
vier Augen fragte alle Welt nach Erekton. In Wahrheit hatte er noch zwei
Tabletten Erekton, die eine aber schon zur Hälfte abgebissen. Bereits seit zwei
Jahren war Erekton Mangelware. Es war immer irgendetwas Mangelware, was noch zu
wenig produziert wurde oder was in Artam nicht hergestellt werden durfte und
deshalb eingeschmuggelt wurde. Manchmal war es Grass, manchmal Placebo,
manchmal Zigaretten (aber das war Adrian als Nichtraucher egal); seit zwei
Jahren Erekton. Wenn überhaupt, dann konnte man nur auf Dienstreisen, mehr oder
weniger heimlich, Erekton auf dem Schwarzen Markt erstehen.
„Ich
habe schon seit einem halben Jahr keine Packung mehr gesehen“, setzte er
verlogen hinzu.
Adrian
stand jetzt vor dem Roboter, der ihm sein Tablett füllte; Hacksteak, Rotkraut
und Salzkartoffeln, dazu ein großer Becher Heidelbeerjoghurt. Ahlfen war der
nächste mit Kaßler, Sauerkraut, Salzkartoffeln und ebenfalls Joghurt. Adrian
wartete auf ihn, bis auch er sein volles Tablett hatte.
„Hast
du gestern gesehen, daß die Libyer wieder einhundert Flüchtlinge nach
Schwarzafrika zurückgetrieben, aber vorher zur Abschreckung kastriert haben?“,
fragte Ahlfen.
„Ich
habe gearbeitet“, sagte Adrian. „So etwas passiert ja auch nicht zum
erstenmal.“
„Ist
aber immer wieder bemerkenswert“, meinte Ahlfen.
Sein
tadelnder Blick glitt über Adrians Gesicht. „Ich kenne dich“, schien dieser
Blick zu sagen, „ich durchschaue dich. Ich weiß genau, warum du dich so wenig
für Politik interessierst.“
Auf intellektuelle Weise hatte Ahlfen eine zweifellos sadistische Ader. Er konnte mit abstoßender, hämischer Befriedigung darüber sprechen, wie in Westafrika eine Armee von Kindersoldaten einen besiegten Stamm kleinhackte, wie häufig Kannibalismus bei abgeschnittenen und versprengten Kampfgruppen in Sibirien vorkam und wie in Ostasien Kommandos in den Dörfern Männer einfingen und zwangssterilisierten. Wollte man sich mit ihm unterhalten, so mußte man ihn vor allem von diesen Themen abbringen und möglichst in ein Gespräch über die Einzelheiten der Rassenschichtenkunde verwickeln. Darüber konnte er fundiert und interessant erzählen. Adrian wandte den Kopf etwas zur Seite, um dem prüfenden Blick der großen blauen Augen zu entgehen.
„War
nicht übel, das Kastrieren“, sagte Ahlfen. „Ich finde, die moralische
Abschreckung ist nicht so groß, wenn man die Leute dabei betäubt. Im Altertum
hat man die Hoden einfach zwischen zwei Ziegelsteinen zerquetscht. Viele sind
dabei in Ohnmacht gefallen.“
Sie
schauten sich nach einem ruhigen Tisch um, und Ahlfen zeigte auf einen in der
Ecke. „Vorher holen wir uns noch jeder einen Tee.“
Der
Automat füllte den Tee in henkellose Porzellanbecher, buchte dafür 40 Pfennige
ab, und sie steuerten die von ihnen ausgesuchte Ecke an. Kein Krümel lag herum.
Im Schwarzen Korps wurde jeder - auch in den Handschar-Familien fast mit
demselben Nachdruck - von Kind auf dazu erzogen, selbst alles aufzuräumen und
sauber zu halten. Nur selten wurde dagegen verstoßen. Wer etwas versehentlich
umstieß - und das konnte ja jedem einmal passieren - der rief einen Roboter,
der wieder aufräumte. Dienstpersonal mußte nur sehr selten eingreifen.
„Wie
kommt das Handbuch voran?“, fragte Adrian.
„Langsam“,
sagte Ahlfen, „ich bin bei den Brahmanen. Ganz schön faszinierend, ähnlich wie
die Parsen.“
Bei
der Erwähnung der Rassenschichten lebte er sofort auf. Er schob das Tablett zur
Seite, löffelte aus seinem Joghurtbecher und sprach leise und eindringlich.
„Die
elfte Auflage enthält wichtige Verbesserungen. Bisher hingen unsere Kenntnisse
von der Rassenseele an vielen Stellen in der Luft, waren bloße Behauptungen. In
den letzten Jahren ist es gelungen, Gene und Genabschnitte den Rassenseelen
zuzuordnen. Du denkst sicher, daß unsere Hauptarbeit darin besteht, diese
Zuordnung zu leisten. Doch daran besteht kein Zweifel mehr. Worum es jetzt
geht, ist die Spur dieser Rassegene in der Geschichte nachzuweisen. Atlantiker,
Juden, Brahmanen, Japaner, Inkas – sie alle hatten und haben verschiedene und
deutliche unterscheidbare Rassenseelen. Wir reduzieren die Geschichte auf die
Geschichte der Rassen, genauer gesagt auf die Geschichte der Rassenschichten.
Die elfte Auflage wird Aussagen machen,
die endgültig sind.“
Er
löffelte dazu seinen Joghurt und sprach mit leidenschaftlicher Eindringlichkeit
weiter. Sein schmales Gesicht belebte sich, seine Augen hatten ihren
spöttischen Ausdruck verloren und glänzten beinahe träumerisch.
Schon
die bloße Existenz der Arbeitsgruppe „Handbuch Rassenschichtenkunde“ mußte den Handschar ein Dorn im Auge sein,
auch wenn es niemals eine Äußerung in dieser Richtung gab. Vor drei Jahren
hatte die Gruppe keinen Jahreshaushalt genehmigt bekommen und sollte aufgelöst
werden. Als die Lehrstühle für Rassenkunde an den baltischen und
skandinavischen Universitäten in Reichsburg nachfragten und protestierten,
stellte es sich heraus, daß – angeblich durch ein pures Versehen – die Gruppe
aus dem Haushaltsplan herausgefallen war. Der zuständige Finanzbuchhalter (ein
Handschar-Mann) entschuldigte sich in aller Form, wies jeden politischen
Hintergrund seines Handelns weit von sich (es fand sich auch niemand, der es
wagte, das in aller Öffentlichkeit zu behaupten), und es konnte weiter am
Handbuch gearbeitet werden.
„Es
ist schon etwas Schönes, in das Geheimnis der Rassenseelen einzudringen. - Beständige Rassen und Staaten entstehen nur
durch Überschichtung und nur dann, wenn die Herrenschicht ihre Rasse
unvermischt bewahrt. Das gelingt nur durch die Ausprägung einer eigenen
Rassenseele, ihre gezielte Höherzüchtung. Die Brahmanen sind eines der
schönsten Beispiele, die ich dafür kenne. Mit der Eroberung Indiens durch die
Arier kam es zur Entstehung des Kastensystems, das an Dauerhaftigkeit alle
ähnlichen Systeme von Rassenschichtung übertraf. Mehr als zwei Jahrtausende
lang wurde eine strenge Heiratsschranke aufrechterhalten. Verwunderlich ist
eigentlich nur, daß dabei nicht noch mehr herausgekommen ist. In der
Industrialisierung erwies sich das Kastensystem als zu wenig flexibel, da die
Spitzenbegabungen eben nicht nur bei den Brahmanen vorhanden waren, sondern sich
auch bei den anderen Kasten herausspalteten und rein mengenmäßig sogar noch in
größerer Zahl. Das untergrub den Führungsanspruch der Brahmanen, und die
Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts riß, wie man erlebt hat und
wie fast überall, auch Indien in den Strudel und das Große Chaos.“
Und
der Islam, dachte Adrian insgeheim. Der Islam war, weil die Moslems mehr Kinder
großzogen als die Hindus, auf dem Subkontinent ein Jahrhundert langsam, aber
sicher, auf dem Vormarsch gewesen, ehe Aryavarta als islamischer Staat
entstand.
„Wie
viele Inder sind eigentlich ins Schwarze Korps aufgenommen worden?“, fragte
Ahlfen plötzlich unvermittelt.
„Nur
wenige“, antwortete Adrian, der die genaue Zahl auch nicht auswendig kannte.
„Alle auf Führererlaß, ordensgeschmückte freiwillige Kämpfer und ein paar
geniale Ingenieure, zumeist mit Brahmanen-Hintergrund, oder tüchtige Parsen,
was dich ja nicht verwundern wird.“
Im
Großen Chaos waren Zehntausende aus Nordindien nach Artam geflüchtet. Die
Männer wurden für Kommandos geworben, die der Führer in Mittelasien, in der
Kaukasusregion und in Kleinasien einsetzte, die aber nicht zu den regulären
Einheiten von Artam gehörten, sofern sie nicht Muslims waren und bei den
Handschar angemustert worden waren.
„Dir
fehlt das richtige Verständnis für die Rassenseele, Adrian“, sagte Ahlfen
beinahe traurig. „Du hängst zu sehr am Körperlichen. Eine Russin kann attraktiv
und schön sein, eine Jüdin kann schön sein, aber ihre Rassenseele paßt nicht zu
uns und kann nie mit uns harmonieren. Und wenn du eine ficken würdest, könntest
Du höchstens Entspannung, nie aber Genuß dabei haben. Und deine eigene Seele
würde dabei vergiftet.“
Adrian
mußte bei diesen Worten an Ludmila denken. Er lächelte – verständig, wie er
hoffte - weil er sich nichts zu sagen
traute. Ahlfen nahm wieder einen Löffel Joghurt und fuhr fort:
„Begreifst
du denn nicht, daß die körperliche Höherzüchtung nur dann einen Sinn hat, wenn
sie durch eine seelische Höherzüchtung ergänzt wird? Zu guter Letzt müssen wir
dahin kommen, daß Rassenschande unmöglich wird, daß wir Ekel und Unvermögen
beim Anblick der anderen Rasse empfinden. Wir müssen diesen Ekel anzüchten,
erst dann ist die Aufartung vollkommen und abgeschlossen. Dafür sind viele
Generationen notwendig, wie wir wissen. Diese Züchtung wird weitergehen, wenn
wir beide längst tot sind. Mit jeder Generation wird die Abneigung größer
werden und die Fälle von Rassenschande, ja auch nur von gedachter oder
geträumter Rassenschande, immer weniger. Natürlich gibt es auch heute schon
keinerlei Grund oder Entschuldigung für begangene Rassenschande. Das ist
lediglich eine Frage der Selbstdisziplin, der Realitätskontrolle. Aber
schließlich wird auch das anders werden. Die Aufartung wird vollendet sein,
wenn ein Atlantiker beim Anblick einer Negerin, einer Ostasiatin, ja
schließlich sogar beim Anblick einer Jüdin, dasselbe empfindet wie beim Anblick
einer Schimpansin. Fast dasselbe“, ergänzte er in einer Art mystischer
Befriedigung. „Hast du dir schon einmal überlegt, Adrian, daß allerspätestens
im Jahr 2300 auch nicht ein einziger Atlantiker mehr leben wird, der beim
Anblick einer jungen nackten Negerin daran denken wird, daß er sie ficken
könnte.“
„Außer
– „ begann Adrian zweifelnd und brach ab.
Er
hatte „Außer den Handschar“ sagen wollen, bremste sich aber, weil er wußte, daß
er damit Ahlfen im Mark treffen und verletzen würde. Ahlfen begriff jedoch, was
Adrian sich verbissen hatte.
„Ja,
die Handschar, die sind keine Atlantiker und werden es nie werden“, meinte
Ahlfen geringschätzig.
Adrian erinnerte sich in dem Moment an ein Vier-Augen-Gespräch mit Ahlfen, das schon zwei oder drei Jahre zurücklag. Ahlfen war damals das Risiko eingegangen und hatte ihm zu erkennen gegeben, daß er mit den Ideen der verfemten Artgemeinschaft insgeheim sympathisierte.
Die
Artgemeinschaft – eines der heißesten
und gefährlichsten innenpolitischen Themen! Etwa eine Generation vor dem Großen
Chaos war die Artgemeinschaft eine einflußreiche geistige Bewegung gewesen, bis
ihre Mitglieder in einer großen Säuberungswelle verhaftet wurden und in den
Lagern verschwanden. Eine offizielle Bestätigung dafür hatte es zwar nie
gegeben, inoffiziell war es jedoch ein offenes Geheimnis: Die führenden Männern
der Artgemeinschaft (darunter sogar zwei Mitglieder des Führerrats) waren die
Köpfe einer Verschwörung gewesen, die das Ziel hatte, die Handschar in einem
Staatsstreich zu entwaffnen und alle männlichen Muslims auszuschalten. Ob nun
alle umbringen oder in Lager stecken, darüber bestand unter den Verschwörern
Uneinigkeit. Als die Handschar von der Verschwörung Wind bekamen, wandten sie
sich – unter Umgehung des Zentralen Gewissens, in dem die Artgemeinschaft ihre
Vertrauenslaute gehabt haben soll - direkt an den Führer, für den es nie einen
Grund gegeben hatte, an der Treue der Handschar zu zweifeln. So war es die
Artgemeinschaft, die ausgeschaltet wurde und nicht die Handschar. Seitdem war
das Thema Artgemeinschaft und Auflösung der Handschar ein absolutes Tabu.
„2250
– wahrscheinlich sogar früher“, fuhr Ahlfen fort, „würde der rassische
Unterschied zwischen Europa und Artam so groß geworden sein, daß uns dann
vielleicht sogar die Juden näherstünden als die Europäer, wenn ...“ Und mit
diesem Wenn brach Ahlfen ab und starrte vor sich hin.
Jetzt
war es Adrian, der in Gedanken den Satz vollendete: „Wenn es nicht die
Handschar gäbe.“
Irgendwann
würde der Führer, mußte ein Führer die Entscheidung treffen und den Gegensatz
zwischen Rassezucht und reiner Leistungszucht aufheben. Im Staatskörper von
Artam waren die Handschar wie ein Geschwür, das langsam, aber unaufhaltsam
wuchs.
Ahlfen
war wieder in der Gegenwart angelangt und ergänzte: „Seit dem Großen Chaos ist
Europa rassisch keine Größe mehr, mit der zu rechnen ist. Und der
Rassenunterschied wird schließlich ein Artunterschied sein, das werden wir
erreichen. Das Alte Europa wird dann nichts weiter als eine Erinnerung sein.“
Eines
schönen Tages, dachte Adrian plötzlich, wird Ahlfen krank und impotent werden.
Er war zu sehr von sich und seiner Sache überzeugt, rechnete zu wenig mit den
Gegenkräften. Die Evolution mochte fanatische Leute nicht. Eines Tages wird er
todkrank sein, und das nicht erst im hohen Alter. Sein Schicksal war ihm
vorgezeichnet. -
Adrian
hatte alles aufgegessen. Er drehte sich auf seinem Stuhl etwas zur Seite, um
seine Tasse Tee zu trinken. Am Tisch zu seiner Linken redete ein Mann mit einer
schneidenden Stimme auf eine junge Frau ein, die mit dem Rücken zu Adrian saß.
Sie hörte ihm zu und schien allem, was er sagte, eifrig beizupflichten. Hin und
wieder fing Adrian Bemerkungen auf wie: „Ich glaube, daß Sie ja so recht haben,
ich bin absolut Ihrer Meinung.“ Ihre Stimme klang jung und ziemlich dümmlich.
Doch die andere Stimme schwieg nicht einmal dann für einen Moment, wenn die
Junge etwas sagte. Adrian kannte den Kameraden Hauptsturmführer vom Sehen,
wußte jedoch nicht mehr von ihm, als daß er irgendeine leitende Stellung in der
Weltnetzabteilung bekleidete. Er war um die vierzig, hatte einen Hals wie
Mussolini und einen breiten Mund. Sein Kopf war ein wenig zurückgelehnt, und
dadurch reflektierten die Haftschalen das Licht. Beunruhigend war, daß man von
dem Redeschwall, der sich aus seinem Mund ergoß, kaum ein Wort verstehen
konnte. Nur einmal schnappte Adrian einen Satzfetzen auf – „vollständige und
endgültige Ausmerzung des Bolschewismus“ - der sehr rasch und wie eine Druckzeile aus einem Guß hervorgestoßen
wurde. Der Rest war einfach nur Lärm, eine Art monotones Quasseln. Und doch
war, auch ohne daß man verstand, was der Mann tatsächlich sagte, der generelle
Tenor unverkennbar. Ob er nun das in der russischen Bevölkerung nicht
auszurottende Gedächtnis an Lenin brandmarkte und härtere Strafen gegen Rassen-
wie Kinderschänder forderte, ob er gegen die Greueltaten der ostasiatischen
Einheiten wetterte, ob er den Führer oder die Helden an der Baikalfront pries –
das machte keinen Unterschied. Was er auch sagte, man durfte sicher sein, daß
jedes Wort davon treue Gefolgschaft bedeutete und Rassebewußtsein ausstrahlte.
Als Adrian das Gesicht mit dem rasch auf- und zuklappenden Unterkiefer
betrachtete, beschlich ihn das sonderbare Gefühl, keinen richtigen Menschen,
sondern eine Marionette aus dem Theater vor sich zu haben.
Ahlfen
war einen Moment verstummt und malte mit dem linken Zeigefinger
gedankenverloren eine Figur auf den Tisch. Die Stimme am Nebentisch quasselte
weiter, gut hörbar trotz des allgemeinen Geräuschpegels im Saal.
„Es
ist noch immer strittig, ob ‚Quasselitis’ Krankheitswert hat oder nicht. Es
liegt daran, daß einerseits großes Redetalent zu den Führereigenschaften
gehört, andererseits bei bestimmten Personen mit psychischen Erkrankungen
einhergeht.“
Mit
solchen Bemerkungen wird sich Ahlfen noch einmal um Hals und Kragen reden,
dachte Adrian erneut. Er dachte es mit einem gewissen Bedauern, obwohl er sehr
wohl wußte, daß auf Ahlfen kein dauerhafter Verlaß war. Wenn Ahlfen von der
Existenz von Ludmila nur den Schimmer einer Ahnung hätte, dann würde er nicht
zögern, ihn zu verachten und zu denunzieren, daran hatte er keinen Zweifel.
Irgendwie war Ahlfen nicht richtig sozial angepaßt. Eigentlich war er gar kein
kritischer und selbständiger Geist, wie er sich zu geben versuchte. Er glaubte
an die Existenz einer Rassenseele, er verehrte den Führer, er freute sich über
Siege in Sibirien, er haßte Neger und Juden, verachtete die Handschar, und dies
alles nicht nur aufrichtig, sondern mit fanatischer Hingabe und einer
Sachkenntnis, über die Adrian nur den Kopf schütteln konnte. Und doch umgab
Ahlfen etwas Anrüchiges. Er sagte Dinge, die besser ungesagt blieben. Er hatte
zu viele Bücher gelesen, die von Nicht-Atlantikern verfaßt worden waren, und er
besuchte das Lokal „Kaffeebaum“, in dem Schriftsteller und Maler ein- und
ausgingen. Es war keineswegs verboten, den „Kaffeebaum“ zu besuchen. Und doch
war es ein Ort, den diejenigen mieden, die Grund hatten, die Aufmerksamkeit des
Zentralen Gewissens nicht auf sich zu ziehen. Lieber zehn Treffen mit Ludmila,
als nur einmal den „Kaffeebaum“ betreten, das stand für Adrian außer Zweifel.
Rehm hatte den „Kaffeebaum“ besucht, ehe man ihn wegen Immunschwäche
verhaftete, damals in der Säuberungswelle, die während des Großen Chaos in
Artam befohlen worden war und in der nicht nur Rehm, sondern der gesamte
Reformflügel des Führerrats liquidiert wurde. Die Reformer hatten sich nicht
selten im „Kaffeebaum“ getroffen, erzählte man, und Rehm hätte dort große Reden
geschwungen. Ahlfens Schicksal ließ sich unschwer vorhersagen. Und doch war an
der Tatsache nicht zu rütteln, daß, falls Ahlfen - und sei es auch nur für drei Sekunden –
etwas von seiner Beziehung zu Ludmila ahnte, er ihn sofort an das Zentrale
Gewissen verraten würde. Das würde zwar auch jeder andere Kamerad tun, doch am
eifrigsten Ahlfen. Der Fahneneid war
nicht alles, die Rassenseele wirkte im Unbewußten.
Ahlfen
blickte auf. „Da kommt Becker“, sagte er.
Etwas
in seinem Tonfall schien hinzuzufügen: „Dieser Schwachkopf“.
Und
richtig, da kam Becker, Adrians Nachbar in der Siedlung – der blonde Riese mit
dem Milchgesicht. Trotz seiner Fülle wirkte er durchtrainiert, seine Bewegungen
waren flink und jugendlich. In seiner ganzen Erscheinung glich er einem
großgewordenen Jungen, und obwohl ihm die schwarze Uniform blendend saß, hatte
er in der Jugendführeruniform, die er bei Paraden auf der Tribüne so lange
hatte tragen dürfen, noch besser gewirkt. Im Grundstück am Haus sah man ihn im
Sommer immer nur in kurzen Hosen und hochgekrempelten Hemdsärmeln. Auch seine
Sportkleidung war stets jugendlich; so trug er beim Innenkantenskaten nicht
eine lange Sporthose, sondern eine beinfreie Sprinterhose, die seine Muskulatur
zur Geltung brachte. Er begrüßte beide mit einem munteren „Heil, heil!“, und
setzte sich mit an den Tisch. Er war ziemlich durchschwitzt, was darauf
hindeutete, daß er gerade aus dem Kraftraum kam und noch nicht wieder richtig
zur Ruhe gekommen war.
Ahlfen
hatte einen Rechnerausdruck mit einer Liste von Begriffen aus der Tasche
gezogen, auf der er einzelne Begriffe mit einem Stift markierte.
„Nun sieh mal bloß einer an, wie der sogar die
Mittagspause durcharbeitet“, sagte Becker und gab Adrian einen leichten Stoß
mit dem Arm. „Das nenne ich Eifer, wie?
Was treiben sie denn da, junger Mann? Garantiert
wieder etwas, was meinen Horizont übersteigt! -
Schwarz,
alter Junge, ich will Ihnen mal verraten, warum sie mir heute nicht aus dem
Kopf gehen. Na, wegen der Spende doch, die sie mir noch immer schulden.“
„Wofür
ist die Spende?“, fragte Adrian und tastete automatisch nach seinem Geldchip.
Es war üblich, etwa ein Zehntel seines Gehalts für freiwillige Spenden zur
Verfügung zu stellen, und dafür gab es so viele Anlässe und Gründe, daß man
leicht die Übersicht verlieren konnte. Für Familien mit vielen Kindern stellten
die Spenden eine echte Belastung dar.
„Für
das Winterhilfswerk. Sie wissen – die Nachbarschaftssammlung. Ich bin doch
dafür der Kassierer. Wir haben diesmal schon viel zusammen. Vielleicht werden
wir die beste Nachbarschaft in der Siedlung und erhalten die Ehrenplakette des
Gauleiters. Wir haben dann alle unser Scherflein beigetragen und ich mit meiner
Hartnäckigkeit. Zwanzig Mark hatten sie letztes Jahr gegeben.“
„Nun
meinetwegen, dann dieses Jahr wieder so viel“. Adrian gab Becker seinen Chip,
der ihn in seinen Handsklaven steckte, mit dem sich bildtelefonieren und
datenbanken ließ. Adrian bestätigte die zwanzig Mark Abbuchung von seinem
Konto.
Becker
wechselte das Thema: „Übrigens, altes Haus, mir ist gesagt worden, unser
Reinhard, der Drittälteste, hat bei euch einen Ast am Gelben Köstlichen
abgebrochen. Ich habe ihm eine tüchtige Standpauke gehalten. Wenn es wieder
vorkommt, darf er ein Jahr lang euer Grundstück nicht mehr betreten, habe ich
ihm gedroht.“
„Das
war gewiß keine Absicht. Er wollte doch nur ausprobieren, wie weit sich der Ast
biegen läßt“, erwiderte Adrian.
„Dann
muß man aber auch damit rechnen, daß er brechen kann. Irgendwie fehlt den
Jungen noch der Verstand zu kapieren, wie lange so ein großer Ast braucht, bis
er gewachsen ist. Außer ‚Partisanen’ und Krieg spielen, gibt es für sie nichts
anderes. Aber wir waren keinen Deut besser. Wissen sie, was meine beiden
mittleren Töchter gemacht haben, als wir letzten Monat in Kurland waren? Sie
haben eine Frau beim Pilzesuchen beobachtet und sind ihr zwei Stunden lang auf
den Fersen geblieben, mitten durch den fremden Wald. Dann haben sie mit ihren
Handsklaven die Garnison alarmiert, die extra ein Flügelfahrzeug eingesetzt und
die Frau verhaftet hat.“
„Und
wieso?“, fragte Adrian leicht verwundert.
Becker
fuhr voller Schwung fort: „Die Pilzsucherin hätte ja eine Aufklärerin der
Partisanen sein können, die nur zum Schein Pilze suchte. Und wie sind die
Mädchen auf diese Idee gekommen? Sie trug nicht die übliche Kleidung der
einheimischen Letten, sondern eine Haube, wie sie in der Regel von den Russen
weiter im Osten getragen wird. Zwar gibt es auch in Lettland noch vereinzelte
Russen, aber es war doch Anlaß zu starkem Verdacht gegeben. Ganz gut
beobachtet, von den beiden Achtjährigen, nicht wahr?“
„Was
ist denn mit der Frau passiert?“, fragte Adrian.
„Darum
haben wir uns natürlich nicht gekümmert. Aber es würde mich gar nicht wundern,
wenn man ihr die Daumenschrauben angelegt hat.“ Es war die übliche Redewendung,
mit der die offiziell verbotene Folterpraxis umschrieben wurde, die bei den
Partisanenverhören gang und gäbe war.
„Gut“,
sagte Ahlfen geistesabwesend und hakte etwas auf seiner Liste ab.
„In
dieser Zeit kann man nicht wachsam genug sein“, stimmte Adrian pflichtschuldig
zu.
„Das
will ich meinen, schließlich haben wir Krieg“, sagte Becker.
Wie
zur Bestätigung dessen, ertönte aus dem großen doppelseitigen Bildschirm in der
Mitte des Saales ein Fanfarensignal, und das Bild wurde aufgeschaltet. Diesmal
handelte es sich jedoch nicht um die Verkündung eines militärischen Erfolges,
sondern lediglich um eine Sondermeldung des Reichsspeeramtes.
„Kameraden!“, rief eine junge, geübte Stimme. „Achtung,
Kameraden! Eine erfreuliche Neuigkeit: Die kombinierte Autobahn- und
Schienenwegbrücke über die Wolga bei Wolgaburg ist wieder aufgebaut und heute
von unserem Wirtschaftsführer für den Verkehr freigegeben worden. Der Landverkehr
zum Ural wird damit um über eine Stunde beschleunigt. Überall entlang der
Strecke von Reichsburg bis Orenburg, auf der in der Zeit von nur vier Stunden
der erste Reichsschnellzug durchlief, kam es zu spontanen Freudenbekundungen
der Bevölkerung. Reichsbürger, die Landwehr unserer Staatsbürger und Männer
unseres Schwarzen Korps standen, Schulter an Schulter, Spalier an allen
wichtigen Stationen und Brücken. An der Heimatfront ist damit eine wichtige
Schlacht gewonnen. Dem Feind, so skrupellos er bei seinen Anschlägen auf unsere
Zivilbevölkerung auch ist, haben wir damit wieder einmal eine Niederlage
beigebracht. Artam braucht schnelle und sichere Transportwege, und wir werden
alles daransetzen, unsere Transportwege schnell und feindfrei zu halten.“
Die
Wendung „feindfrei halten“ kehrte mehrmals wieder. Genau das war
das Problem und deshalb eine Lieblingswendung der Propaganda. Becker, dessen
Blutdruck bei dem Fanfarensignal gestiegen war, hörte konzentriert zu. Er hatte
selbst schon manchen Monat seines Lebens irgendwo im Schlamm gelegen, um
irgendeine Erdgasleitung, einen Schienenstrang, einen Flugplatz oder eine
Brücke zu bewachen, nur um dann zu erfahren, daß die Strecke irgendwo anders
zerstört und unterbrochen worden war. Daten zu übertragen war kein Problem, in
den vom Weltnetz abgekoppelten Sondernetzen von Artam auch ziemlich sicher.
Gefährdet waren hingegen die Transporte schwerer Güter, die auch in einer
Informationsgesellschaft in einem gewissen Umfang noch unentbehrlich waren, und
schwierig die Sicherung der Transportwege vor Partisanenangriffen. Die Brücke
in Wolgaburg war bereits im Vorjahr so gut wie wieder aufgebaut, dann aber
durch einen Raketenangriff erneut schwer beschädigt worden. Trotz aller
Abwehrmaßnahmen gelang es Partisanen, eine Batterie Kurzstreckenraketen in
Stellung zu bringen und fernzuzünden.
Mittelstreckenraketen hätte man abwehren können, aber die wirksame Abwehr von
Kurzstreckenangriffen war bisher nur Wunschtraum, trotz der weit
fortgeschrittenen elektronischen Raumkontrolle, die zwar nach der gegenseitigen
Ausschaltung der satellitengestützten Ortung im Großen Chaos gestört gewesen
und mit ziemlichem Kostenaufwand wiederhergestellt worden war.
Adrian
wußte, daß auch die nächste Fernreise mit Familienangehörigen nur in
Abhängigkeit von der Sicherheitslage geplant werden konnte. Durch die
elektronische Ortung war man an jedem Ort alarmbereit und hatte zur Verfügung
zu stehen. Es war auch eines seiner Probleme bei den Treffen mit Ludmila. Aber
da sie sich beide nur im ziemlich ruhigen Herzland bewegten, waren sie bisher
noch von keinem Alarm betroffen gewesen.
Becker
hatte solche Sorgen nicht. Der hatte inzwischen eine Tüte mit Sonnenblumen aus
einer Tasche gezogen und kaute genüßlich. Er bot Adrian an, in die Tüte zu
greifen und kaute weiter, dabei andächtig auf die Nachrichten lauschend. War er
wirklich so unkritisch? Adrian hatte von ihm niemals eine kritische oder
spöttische Bemerkung zu irgendeiner Meldung gehört, und er gab sich deshalb
große Mühe, sich in seiner Gegenwart aller derartigen Anmerkungen zu enthalten.
An
die Sondermeldung schloß sich eine Statistik der Erfolge an. Verglichen mit dem
Vorjahr gab es mehr Obst und Gemüse, mehr Flachs, mehr Zement, mehr
elektronische Bauteile, mehr Reifen, mehr Autos, mehr Sportgeräte, mehr
Brennstoff – ja sogar die Geburtenzahl bei den Reichsbürgern stieg wieder
deutlich an, die Lebenserwartung erhöhte sich, und es waren in den Hafenstädten
nur zwei Neuinfektionen mit Immunschwäche bekannt geworden. Artam erlebte
zweifellos einen Wirtschaftsaufschwung.
Adrian
faßte noch einmal in die Tüte mit den Sonnenblumen und kaute nachdenklich
weiter. Gedankenverloren zog er mit der linken Hand Kreise auf dem Tisch. Er
grübelte über die wirtschaftliche Situation des Landes nach. Ging es wirklich
wieder aufwärts? Wie lange würde es aufwärts gehen? War nicht alles schon
einmal besser gewesen? Er blickte sich im Saale um. Saubere Tische,
ausreichendes und gutes Essen, gutgenährte schwarze Uniformen, eigentlich
konnte man zufrieden sein.
Er
konnte sich an bedeutend schlechtere Zeiten erinnern. Artam war vom Großen
Chaos nicht verschont geblieben, aber das Land der Erde, das noch am
glimpflichsten davon gekommen war. Mitte des Jahrhunderts hatte die
Einwohnerzahl der Erde mit rund neun Milliarden das Maximum erreicht. Zu dieser
Zeit waren bereits große Teile Schwarzafrikas, Lateinamerikas, Indiens und
Südostasiens im Chaos versunken und die staatlichen Ordnungen zerbrochen. Diese
Auflösung hatte in Kolumbien, Sierra Leone, im Kongo und den Molukken bereits
um 1990 eingesetzt. Schließlich hatte das Chaos auch alle Industrieländer
erfaßt. Die Verknappung und Verteuerung aller lebenswichtigen Güter, die mit
einer horrenden Steigerung der Energie- und Rohstoffpreise begonnen hatte,
führte zu Altenpogromen, und fast überall gingen die schleichenden in offene
Bürgerkriege über, die mit unbeschreiblicher Grausamkeit geführt wurden. In diesem Jahrhundert verstarben durch die
Immunschwächeseuche weltweit allein rund eine Milliarde Menschen. Weitere zwei
Milliarden verhungerten und verdursteten. Die regionalen Kernwaffenkriegen, die
atomare Verseuchung nach der Zerstörung von Kernkraftwerken und der
Kernwaffenterror forderten ein Menschenopfer von vier Milliarden. Jetzt erst,
nachdem die Einwohnerzahl der Erde auf etwa zwei Milliarden gesunken war,
zeichnete sich eine allmähliche Stabilisierung ab.
Adrian
blickte sich im Saale um. Am anderen Ende des Saales saß ein rothaariger
Sturmscharführer mit Sommersprossen allein an einem Tisch und trank Tee. Alle
Kameraden waren groß und gut gewachsen, auch die dunkelhaarigen Handschar. Die
enganliegenden schwarzen Uniformen, die eine männliche Eleganz ausstrahlten,
saßen wie angegossen. Manche waren vielleicht zu kräftig, aber das war eben die
Geschmacksrichtung vieler Frauen. Die gezielte Selektion seit nunmehr fünf
Generationen trug zweifellos ihre Früchte. Wenn man die Augen schloß und sich
die Idealgestalten der Bildhauer vorstellte, war es keine Schwierigkeit zu
begreifen, daß das von dem ersten Reichsführer des Schwarzen Korps, Himmel,
angestrebte Ideal – wenn man die Handschar ausklammerte - begonnen hatte,
Wirklichkeit zu werden, und in weiteren fünf Generationen voll durchgezüchtet
sein würde, so wie bei den Massai und den Nuba ein Ideal durchgezüchtet war.
Die
Männer und Ehefrauen der Atlantischen Stämme des Schwarzen Korps unterschieden
sich schon rein äußerlich von allen Bewohnern des Reiches, ja von allen anderen
Menschen. Aber darin lag auch die Gefahr. Ein weites Feld waren die Charaktere,
die in den fünf Generationen gezüchtet worden waren. Die
Persönlichkeitsbewährung in der Kampfzeit, die jeder Mann durchlaufen mußte,
war die eine, die Anforderungen im Herrschaftsapparat die andere Seite. Es gab
in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst zu wenig
Neuerungen. Den bloßen Befehlsempfängern ging es zu gut. Zusehends verlor das
Schwarze Korps in seiner schöpferischen Kraft gegenüber Ostasien und
Nordamerika an Boden. Da der Führerrat diese Entwicklung als gefährlich erkannt
hatte, waren in Artam die Freiheiten für Wirtschaft und Wissenschaft erweitert
worden. Dies galt insbesondere für Angehörige des Clans und des
Familienverbandes, die einen erheblichen Teil der leitenden Stellungen im
Wirtschaftsleben besetzten. Der Erbwert von kreativem Denken und unternehmerischem
Handeln blieb dennoch
ein
weithin unbearbeitetes Feld.
Die
Durchsage des Reichsspeeramtes endete abermals mit einem Fanfarensignal; darauf
folgte Marschmusik. Becker, der die Erfolgsstatistik mit verhaltener
Begeisterung zur Kenntnis genommen hatte, griff zu einem Kaugummi.
„Das
Reichsspeeramt hat dieses Jahr eindrucksvolle Erfolge zu melden“, stellte er
befriedigt fest. „Übrigens, Schwarz, mein Zaunnachbar, könnten sie mir nicht
vielleicht mit ein paar Dragees Erekton aushelfen?“
„Unmöglich“,
sagte Adrian, „seit einem Vierteljahr muß ich ohne auskommen, so schön ein
zusätzlicher kräftiger Schuß auch manchmal wäre. Ohne soll aber auf die Dauer
auch gesünder sein.“
„Ich
möchte das ja auch gern glauben, aber es ist doch mein einziges Laster. Es war
ja auch nur eine Frage.“
„Tut
mir leid.“
Die
quasselnde Stimme vom Nebentisch, die während der amtlichen Durchsage
vorübergehend verstummt war, hatte wieder in voller Lautstärke eingesetzt. Aus irgendeinem Grund mußte
Adrian an Beckers Frauen und an seine Familie denken. Er rechnete die
Wahrscheinlichkeit aus, wie viele ihrer Söhne die Kampfjahre überleben und wie
viele als Kriegsbeschädigte zurückkämen. Viele Tränen würden geflossen sein,
bevor Becker und Reitmeier sich einmal als zehnfacher Großväter feiern lassen
konnten. Nur die, die von Geburt an nicht kriegsdienstverwendungsfähig waren,
würden keine Ursache zu Trauer und Schmerz geben. Aber sie wurden auch nicht
ins Sippenbuch eingetragen werden, und ihre Nachkommen gehörten nicht zum
Schwarzen Korps.
Ein
Gedankensprung riß ihn jäh aus seinen Betrachtungen. In der letzten
Dienstbesprechung war die Absicht bekannt geworden, die
Vaterschaftsfeststellungen um zahlreiche Genorte zu erweitern. Wenn man nun
daran ginge, diese Genorte auch bei allen Staatsbürgern zu erfassen, dann ließ
sich seine Verbindung mit Ludmila nicht länger verheimlichen. Diese Weiterung
badete ihn in kalten Schweiß.
Es
war ein Wunder, daß es jahrelang gut ging. Als Ludmila ihm gesagt hatte, daß
sie von ihm schwanger sei und das Kind auf jeden Fall austragen wolle, da war
bei ihm zum erstenmal dieser kalte Schweiß ausgebrochen und die nackte Angst
hatte ihn gepackt. Wenn das herauskam! Die Frau konnte so schön und attraktiv
sein, wie sie wollte, und der Sohn so wohlgeraten, wie er dann tatsächlich
geboren wurde, für einen verheirateten Mann des Schwarzen Korps war es
Rassenschande. Rassenschande mit unübersehbaren Folgen! Die Erbwerte seiner
Kinder, ja zwangsläufig sogar aller Verwandten, würden im Sippenbuch gemindert
werden, wenn den Kindern wegen des Fehlverhaltens ihres Vaters auch kein
Ausschluß drohte. (Der drohte nur bei fortgesetztem Fehlverhalten oder
geistigen Erkrankungen in mindestens zwei aufeinanderfolgenden Generationen.)
Seit
diesem Tag war es für ihn und Ludmila noch schwieriger geworden, sich zu
verabreden, als so schon. Jeder direkte Kontakt über Telefone schied aus, und
sie mußten sich immer neue und komplizierte Kodierungen für ihre Mitteilungen
ausdenken. Lange Zeit hatten sie die Liste für die Obst- und Gemüsesorten bzw.
die Anfangsbuchstaben der Sorten als Kode benutzt. Das lag als unverfänglich
nahe, da die Sortenzucht eine Aufgabe von Ludmilas Institut war und Adrian ein
ausgewiesener Kenner von Obstsorten. Das ging lange gut, bis Gundula eines
Tages fragte, warum er den Obstsortenkatalog dieses Instituts so bevorzuge. Die
Antwort machte ihn nicht verlegen. Aber man mußte sich daraufhin etwas anderes
einfallen lassen.
Ahlfen
hatte seinen Rechnerausdruck zusammengefaltet und steckte ihn in die
Brusttasche.
Becker
gab wieder etwas aus seinem Familienleben zum besten. „Hab ich euch eigentlich
schon einmal erzählt“, sagte er, einen Kaugummi dabei von der einen Backe in
die andere schiebend, „wie meine beiden Kerlchen, Hasso und Hubert, auf dem
Markt bei einer alten Russin die Heringe an deren Verkaufsstand gelockert
haben? Die Alte war in einen Schador eingewickelt, aus dem ihre riesige
Hakennase herausragte und verkaufte Obst und Pilze. Die beiden hatten sich an
ihren Stand von hinten angeschlichen. Da ziemlicher Wind war, stürzte der Stand
mit einem Ruck nach vorn. Das Geschrei
war groß und der Schaden auch. Eine andere Russin, die gerade etwas kaufen
wollte, hat das vordere Dachrohr abbekommen und davon eine große blutende
Platzwunde am Kopf. Die beiden haben das beobachtet. Das sind die geborenen
Aufklärer, sage ich euch. Elektronik mag zwar oft gut und unentbehrlich sein,
aber zum Späher muß man geboren sein.“
„Mal
etwas anderes“, Becker wechselte das Thema, “habt ihr davon gehört, daß bei der
UFA in Potsdam ein Film mit dem Titel ‚Frau, komm!’ gedreht werden soll?
Vorlage soll ein Buch von einem gewissen Kossek sein.“
Adrian
zuckte mit den Achseln.
Doch
Ahlfen wußte Bescheid. „Das Buch von Rolf Kossek ‚Die Geschichte der Deutschen
in ihrer tiefsten Erniedrigung’ ist schon 2004 in Tübingen im Altreich gedruckt
worden, also eigentlich Schnee von gestern, und damals und dort lebhaft
diskutiert worden, ohne bei uns in Artam Beachtung gefunden zu haben, denn aus
unserer Sicht ist die Handlung des Buches geradezu grotesk. Kosseks Buch ist
eine der Alternativen Geschichten, wie sie um diese Zeit im alten Europa in
Mode kamen. Der erzählerische Trick bestand darin, an einem Punkt der
Geschichte ein wichtiges Ereignis in anderer Weise als in der Wirklichkeit
ablaufen zu lassen und dann die Geschichte mit dieser Korrektur in ihrer
inneren Logik weiterzuspinnen.“
„Und
an welchem Punkt hat Kossek die Geschichte geändert?“, fragte Adrian. Das Thema
weckte sein Interesse. „In Kosseks Fiktion ist das Flugzeug des Ersten und
Größten Führers Aller Zeiten nicht im November 1941 über Pommern abgestürzt,
sondern der Führer lebte weiter. Das war ja immerhin eine Möglichkeit und sein
Absturz vermutlich nur ein historischer Zufall, nichts weiter als ein
technischer Defekt und kein Attentat, völlig geklärt hat man es ja nie. Ein
zweiter Unterschied zur Wirklichkeit besteht aber in Kosseks Buch darin, daß
der Führer zu seinen Lebzeiten mit Japan keinerlei Abmachungen über ein
gemeinsames Vorgehen gegen die Sowjetunion getroffen hatte. Es fand also im
Herbst 1941 im Fernen Osten kein gegen die Rote Armee gerichteter japanischer
Truppenaufmarsch statt, nicht einmal zum Schein. Die Russen nahmen das, fast
ungläubig, aus Tokio von ihrem Chefspion Richard Sorge zur Kenntnis und
verlegten ihre sibirischen Truppen in den Moskauer Raum für eine
Gegenoffensive, die am 5. Dezember 1941 begann. Weder der Truppenaufmarsch noch
die Gegenoffensive seien von der deutschen Aufklärung in ihrer Bedeutung
erkannt worden, da man die Russen schon für weitgehend besiegt hielt. Kosseks
Buch enthält ein Szenario, wie es an Absurdität nicht überboten werden kann:
Die Japaner bombardierten nämlich nach seiner Darstellung am 7. Dezember 1941 –
also nicht erst 1942 - Pearl Harbor und am 8. Dezember erklärte – laut Kossek -
das Großdeutsche Reich den USA den Krieg.“
„Daß
der Erste Führer, der bis dahin fast alles richtig gemacht hat, dann sehr bald,
wenn er noch gelebt hätte, Opfer einer derartigen Fehleinschätzung geworden
wäre, das kann ich einfach nicht glauben“, entrüstete sich Adrian.
„Einen
teuren Toten einen derartigen groben strategischen Irrtum zu unterstellen, das
ist Gotteslästerung. Und das sicher nur, damit sich die Böswilligkeit des
Verfassers auf den folgenden Seiten so richtig austoben konnte“, ergänzte
Becker.
„Es
ist zwar richtig, daß sich die USA im Dezember 1941 faktisch im unerklärten
Krieg mit Großdeutschland befanden, in dem sie England massiv belieferten,
ihnen aber den offenen Krieg selbst zu erklären, das hieße keinerlei Lehre aus
dem Weltkrieg gezogen zu haben. Das Deutsche Reich hätte den Weltkrieg 1918
bereits gewonnen bzw. im Westen nach dem Sieg im Osten und dem Frieden von
Brest-Litowsk einen Verhandlungsfrieden erreicht, wenn es nicht mit der
Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges den USA den Anlaß zur
Kriegserklärung gegeben hätte. Ein paar Wochen später brach die
bolschewistische Revolution in Rußland aus, und man hätte sich den
uneingeschränkten U-Boot-Krieg und den Kriegseintritt der Amerikaner ersparen
können. Schon ein Zeitgewinn von mehreren Monaten hätte im Frühjahr 1918
entscheidend sein können. Ebenso mußte man 1941/42 so lange wie irgend möglich
versuchen, innerhalb der USA den Antikriegsgegnern um Charles Lindberg
Argumente zu liefern“, meinte Adrian (der darüber bestens Bescheid wußte, denn
Charles Lindberg war einer seiner leiblicher Vorfahren).
„Ich
habe gehört, daß der Zweite Führer 1942 tatsächlich eine Kriegserklärung an die
USA erwogen haben soll, sich aber dann der Rationalität politischen Handelns
gebeugt hat“, fügte Ahlfen hinzu.
Becker
empörte sich: „Der Film geht sogar von der irren Vorstellung aus, daß die Rote
Armee bis an die Elbe vorstieß und Berlin eroberte, ja am 24. April 1945 mit
den Amerikanern bei Torgau mitten in Deutschland zusammentraf. Und das hat sich
Kossek eigentlich alles nur ausgedacht, damit er seiner perversen Phantasie
freien Lauf lassen und Berichte angeblich von den Russen vergewaltigter
deutscher Frauen niederschreiben und sich daran weiden konnte. Ich hoffe, die
Aufführung des Films wird, wenn er jemals gedreht werden sollte, in Artam
verboten.“
„Man
sollte vielleicht ein Spezialkommando nach Babelsberg schicken und das
Filmstudio sprengen lassen“, bemerkte Ahlfen, dabei hinterlistig lächelnd.
Adrian
war das ganze einfach zu blöd, als das er noch etwas dazu sagen wollte. Wenn
der Film aber tatsächlich gedreht werden sollte, so würde er ihn sich ansehen,
entschloß er sich insgeheim. Über das Weltnetz war der Streifen sicher
beschaffbar.
Becker
trank seinen letzten Schluck Tee aus und ging.
Langsam
begann sich der Saal wieder zu leeren. Die Essenszeiten waren ebenso wie
Arbeitsbeginn und Arbeitsende in der Regel Gleitzeiten, jedoch hatten sich die
meisten einen bestimmten Tagesrhythmus angewöhnt. Nur zu den Appellen, Paraden
und Gedenkfeiern, da war pünktliche Anwesenheit dringend geboten.
Ahlfen,
der noch sitzen geblieben war, starrte gedankenverloren vor sich. „Wenn
eintausend Kameraden auf einem Platz stehen und der Führer spricht zu ihnen,
dann verlieren sie als Masse den Intellekt der Einzelperson, der sie sonst
auszeichnet. Sie brauchen deswegen nicht Becker oder Fleischer zu heißen.“
Adrian
verstand nicht, worauf er hinauswollte und blickte ihn fragend an.
„Die
Masse ist äußerst denkfaul und begreift kaum die allereinfachsten Dinge, wenn
sie nicht dauernd in primitiver und leichtfaßlicher Formulierung eingehämmert
werden. Rechnerische Argumente, logische Schlußfolgerungen und unangreifbare
überzeugende Darlegungen werden restlos abgelehnt, wenn sie nur das geringste
Eingehen auf irgendwelche Gedankengänge
verlangen. Alles Ermahnen, Beschwören und Warnen mit Gründen der Vernunft
allein ist aussichtslos.“
„Aber
...,“ wollte Adrian einwenden.
Doch
Ahlfen ließ sich nicht bremsen: „Die Masse hat ein Erinnerungsvermögen nur für
die fundamentalsten Erlebnisse von Not und Genuß. Die Masse sucht stets die
Schuld bei anderen, nie bei sich selbst. Die Masse ist schwer berechenbar, von Stimmungen abhängig und unterliegt
häufig unkontrollierbaren Einflüssen. Die Masse ist anlehnungsbedürftig und
stets bereit, Verantwortung, Arbeit und Leistung irgendwelchen Führern zu
überlassen.“
„Das
gilt anderswo, doch nicht in Artam, warf Adrian ein.
„Die
Masse wird weit mehr durch Form und Tenor einer Rede, eines Schriftsatzes oder
die Farben und Flächen eines Bildwerks beeinflußt, als durch den realen
gedanklichen Inhalt. Deshalb haben Pathos und Theatralik eine ungleich größere
Kraft, die Sympathie der Massen zu erwerben, als die bedeutendsten geistigen
Analysen und Erkenntnisse. Ganz erstaunlich ist der häufig sichere Instinkt der
Masse für Qualität; nur ist der Maßstab sehr oft ein völlig anderer, als der
Einzelne anzuwenden gewohnt ist.“
Der
letzte Satz war endlich einer, der auch Adrians Zustimmung finden konnte. Er
nickte beifällig.
Mit
der Feststellung: „Ein Masse kann alle Eigenheiten zeigen, die ein von ihr
vergötterter Führer besitzt oder auslöst, und wenn die Masse erst dem Propheten
folgt, dann ist sie unwiderstehlich“,
damit beendete Ahlfen seinen sonderbaren Quasi-Monolog.
Adrian
war Ahlfen unheimlich. Er wußte einfach zu viel, wollte zu viel durchschauen.
Der Umgang mit ihm begann kompromittierend zu werden. Lag es auch an der
Gruppe, in der arbeitete?
Es
war Zeit, an nützliche Arbeit zurückzugehen.