Es geschahen
noch Zeichen und Wunder: Adrian bekam die beantragte Dienstreise nach Berlin
genehmigt. Und das, obwohl über sein Gnadengesuch vom Führer noch längst nicht
entschieden war. Adrian hoffte jetzt verstärkt auf einen positiven Bescheid. Er
hatte seine Familie und seine Existenz in Artam, und man rechnete
offensichtlich nicht damit, daß er sich zu Kurzschlüssen hinreißen ließ und
sich von Berlin aus in ein Drittland absetzen würde.
Anlaß der Reise war der 22. Kongreß der Internationalen Gesellschaft für Artifizielle Insemination und Selektionsoptimierung. Die Beschäftigung mit Zuchtoptimierung war ja seit zwanzig Jahren nicht nur Adrians berufliche Obliegenheit, sondern auch sein privates Steckenpferd. Er hatte einen gefestigten Ruf als Fachmann auf diesem Gebiet. Folgerichtig, daß auch das Zentrale Gewissen seine Reise befürwortet hatte. Daß der Kongreß in Berlin stattfand, ja stattfinden durfte, galt als ein deutliches Zeichen, daß sich die politische Atmosphäre allmählich wieder versachlichte. Zu Zeiten der Politischen Korrektheit war es im Altreich, ja im gesamten Alten Europa, unmöglich gewesen, zu dieser Thematik auch nur eine bescheidene Veranstaltung durchzuführen oder gar zu forschen, geschweige denn einen der im Vierjahresrhythmus aufeinander folgenden Kongresse der Gesellschaft abzuhalten. Der dritte Kongreß fand einst in Hamburg statt, war aber von Demonstrationen der Autonomen und Ausschreitungen überschattet gewesen. Bald danach war das Thema Menschenzucht für mehrere Jahrzehnte tabu geworden.
Da er sich in
Berlin unmöglich in der schwarzen Uniform zeigen konnte – das wäre noch immer
lebensgefährlich – hatte Adrian sich neu eingekleidet. Man konnte ihn jetzt mit
seiner sportlichen Jacke und Hose der Marke Kamel für einen nordamerikanischen
Touristen halten. In der ungewohnten
Kleidung, in der er sich nicht wohl fühlte, stand er nun mit seinem Koffer und
seinem flachen Schoßrechner auf dem Flugfeld Tempelhof vor der Schlange der
bereitstehenden Taxis. Keiner der Taxifahrer war ein atlantischer oder
ostischer Typ, stattdessen alles Mediterrane oder farbige Mischlinge. Ein
freundlicher Mann, mit unverkennbar negroidem Blutanteil, öffnete die Tür
seines Wagens und forderte Adrian auf einzusteigen. Er zögerte einen kurzen
Moment. Absolut Vertrauen erweckend erschien ihm auch kein anderer Fahrer, aber
sie standen mit ihren Autos in einer Warteschlange. Dem Mulatten stand zu, den
nächsten Kunden einsteigen zu lassen, und das traf nun einmal Adrian. „Wohin
der Herr wollen?“
„Dahlem,
Christstraße, Gästehaus der Max-Planck-Gesellschaft.“
Der Fahrer
fuhr nicht sofort los und hatte offenbar Schwierigkeiten, das Ziel, das er
eintippen mußte, auf seinem Routenplaner zu finden.
„Wie
Christstraße sich schreiben?“
Adrian
buchstabierte den Straßennamen und bemerkte dabei, daß der Farbige „Christ“ mit
„K“ geschrieben hatte und deswegen nicht zurecht kam. Wann sollte der Mann auch
jemals etwas von Hans-Hermann Christ gehört haben, dem Oberlehrer und berühmten
Schmetterlingssammler, nach dem die Deutschen die Straße einst benannt hatten?
Nach
Überwindung dieser Anfangsschwierigkeit verlief die Fahrt aber völlig
problemlos, der Routenführer funktionierte perfekt.
„Woher Sie
kommen?“, fragte der freundliche Fahrer.
„Vom ‚Großflughafen
Franz August Strauss’ in Reichsburg“, antwortete Adrian wahrheitsgemäß. Er sah
keinen Sinn in einem Versteckspiel.
„Oh, aus
Artam. Artam reiches Land, Artam sicheres Land, gut Taxi fahren dort. Aber
nicht gut für mich.“
Adrian, unklug
im Verhalten wie manchmal, fragte zurück: „Warum nicht?“
„In Artam nur
Menschen mit Haaren weiß wie Sie, keine schwarzen wie ich. Artam nicht gut für
mich.“
Dem wollte
Adrian nicht widersprechen. Er schaute interessiert aus dem Fenster. Die Fahrt
ging durch ein gepflegtes Villenviertel, wenn auch von einem völlig anderen
Charakter als eine Villensiedlung des Korps in Artam, und dauerte nicht
lange.
Adrian hatte
sich auf diese Reise nach Berlin gut vorbereitet. Auf dem Weltnetz befanden
sich eine Menge geeigneter Texte und Bilder. Er war sogar im Auswärtigen Amt
vorstellig geworden und hatte sich von einem Kameraden beraten lassen, der in
den letzten Jahren mehrfach in Berlin zu tun hatte. So wußte er, daß die
Strecke von Tempelhof nach Dahlem durch gut erhaltene oder wiederhergestellte
Straßen führte, wie sie für Berlin schon längst nicht mehr typisch waren. Das
sah er bereits vor der Landung vom Flugzeug aus.
Um 1950 hatte
Groß-Berlin mit etwa 5 Millionen Einwohnern sein Maximum erreicht. Schon bis
zur Jahrtausendwende sank die Einwohnerzahl dann allmählich, aber stetig, teils
bedingt durch die Spaltung des Reiches und die Machtverlagerung, die massive
Abwanderung der Talente und risikobereiter Persönlichkeiten nach Artam und den
Aufbau von Reichsburg, teils als Folge der inneren krisenhaften Entwicklung des
Altreichs. Berlin war auch nicht, wie man eigentlich für das Zentrum des
Großdeutschen Reiches für selbstverständlich gehalten hatte, Hauptstadt der
Europäischen Gemeinschaft und ihrer Institutionen geworden, sondern Straßburg.
Zahlreiche Verwaltungen wählten Prag oder Brüssel als ihren Sitz.
Auch nicht die
Verlegung einiger Dienststellen in das beschauliche Bonn hatte das alte Berlin
zerstört, sondern der Umstand, daß in der Stadt viel zu wenig deutsche Kinder
geboren wurden. Darüber hinaus führte bereits um 1980 der Bedeutungsverlust der
Stadt dazu, daß sich der Zuzug aus ländlichen Gemeinden und deutschen Städten –
in der Geschichte oft Zwischenstationen auf dem Weg der Generationen nach
Berlin - abschwächte. Arbeitskräfte fehlten, und Türken wurden angeworben. Sie
hießen nun nicht mehr Fremdarbeiter, sondern Gastarbeiter. Diese Bezeichnung
besagte, daß man anfangs davon ausging, daß die Männer nach Auslaufen ihrer
befristeten Arbeitsverträge wieder in ihre Heimat zurückkehren. Aber mehr und
mehr blieben, und ihre Familien zogen nach. Die Regierungen unter den
langjährigen Kanzlern Kleinschmidt, Kohlmann und Schönschredder förderten das
Entstehen einer kopfstarken türkischen Minderheit durch Akte von krasser
politischer Dummheit. So zahlte man auch Kindergeld an den Nachwuchs, der in
Anatolien geboren war und dann nach Berlin kam und erlaubte jahrzehntelang den
Nachzug von Verwandten, die kein Wort Deutsch verstanden. Und das noch zu einer
Zeit, da solchem Nachzug in Holland längst ein Riegel vorgeschoben worden war.
Häufig suchten sich die jungen türkischen Männern eine Ehefrau in der Türkei
und brachten sie mit nach Berlin. Mit diesen Frauen setzten sie doppelt so
viele Kinder in die Welt, als mit einer in Deutschland geborenen. Als
zwangsläufige Folge wandelten sich bis 2010 ganze Berliner Stadtviertel
praktisch in türkische Großstädte um, mit türkischer Presse, türkischem
Fernsehen und türkischen Banken, so wie es in Paris, Lyon und Marseille
arabische Viertel gab. Die noch verbliebenen Deutschen räumten die
Türkenviertel, da in ihnen ein Schulunterricht, in denen Originaltexte von
Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller und Günter Krass gelesen werden sollten,
nicht mehr abzuhalten war. Es kam dann das, was kommen mußte, und wovor
weitsichtige Persönlichkeiten lange Zeit, aber völlig vergeblich, gewarnt
hatten.
Es begann
damit, daß deutsche Passanten, die durch überwiegend von Türken bewohnte
Straßen gingen, angepöbelt wurden. Wenn einige junge Türken zusammen auf der
Straße standen – und sie standen oft, weil die Arbeitslosigkeit unter ihnen
sehr hoch war - dann erwarteten sie von
einem Deutschen, daß er die Straßenseite wechselte und ihnen auswich. Tat er
das nicht, wurde ihm Prügel angedroht. Es blieb nicht bei der Drohung und beim
Anrempeln. Wagte es ein junger Deutscher, auf seinem Recht auf freies
Weitergehen zu beharren, so drohte ihm eine Tracht Prügel. Die Polizei ließ
sich nicht blicken oder sah weg. Erstattete ein Verprügelter gar formelle
Anzeige, so war sein Fall so gut wie aussichtslos. Es fanden sich stets Zeugen,
die den Verprügelten als Angreifer gesehen hatten. In den Schulhöfen das
gleiche Spiel. Anstatt daß die Türken in der Schule richtig Deutsch lernten,
wurde es für die wenigen deutschen Kinder, die noch in diesen Wohngebieten
lebten, eine Überlebensfrage, Türkisch zu beherrschen.
Die
Gegenbewegung ließ nicht auf sich warten. Bildungsarme deutsche Jugendliche -
auch unter ihnen gab es viele Arbeitslose, mit Glatzen und Springerstiefeln als
Markenzeichen - rotteten sich gelegentlich zusammen und verprügelten türkische
Jugendliche. Wenn Deutsche mit der Reichskriegsflagge in Türkenviertel
einfielen, um Türken „abzuklatschen“, griff die deutsche Polizei ein und
verhaftete Deutsche. Wer gar wagte, als extremes Zeichen der Opposition die
Hakenkreuzfahne von Artam in der Öffentlichkeit zu zeigen, dem erwartete als
Staatsfeind eine Verurteilung zu mehreren Jahren Zuchthaus. Die Presse
ereiferte sich gegen die ausländerfeindlichen Demonstranten und rief zu
Sympathiekundgebungen auf, die dann auch regelmäßig stattfanden. Dabei trug man
brennende Kerzen, schwenkte rote Fahnen und marschierte hinter Plakaten her auf
denen stand: „Nie wieder Doitschlant“ oder „Deutschland verrecke“. Das
allerdings blieb straffrei. Jahrzehntelang schaukelte sich das allmählich auf,
hielt sich aber meist noch in gewissen Grenzen.
Dann kam –
damals nach der dritten Überschwemmung von New Orleans - das Große Chaos.
Finanziell war Groß-Berlin schon lange bankrott. Die deutschen Kirchen und ein
großer Teil der Kultureinrichtungen hatten schließen müssen oder befanden sich
in einem bedauernswerten Zustand. Müllabfuhr, Wasserversorgung, Ferngas usw.
funktionierten nur noch teilweise. Wer es sich leisten konnte, verlegte seinen
Wohnsitz ins weitere Umland. Nur wenige Stadtviertel im Westen, wie Dahlem und
Zehlendorf, waren noch einigermaßen intakt. (In ihnen und im Umland blieb
Deutsch Umgangssprache.) Die Zwischenfälle in den öffentlichen Verkehrsmitteln
häuften sich, ebenso Belästigungen, Diebstähle, Überfälle und Vergewaltigungen.
Die Katastrophe kündigte sich an, als bestimmte Straßen, ja ganze Stadtviertel,
die Türkenviertel sowieso, für Fremde unpassierbar wurden, auch tagsüber. Wie
in vielen anderen Teilen der Welt, so spielten sich während des eigentlichen Chaos’
auch in Berlin solche Schreckensszenen ab, wie sie Pieter Brueghel gemalt und
Goya gezeichnet hat. Traurige Berühmtheit erlangte die Stadt durch die
„Berliner Altenpogrome“. Was Herbert Kremp
[1]
dreißig Jahr früher als
eine Schreckensvision vorschwebte, wurde Wirklichkeit: Im alten Olympiastadion
ließ man hunderte deutsche Alte - Frauen und Männer - nackt und nur mit Stöcken
zur Verteidigung ausgerüstet, zum Gaudi der Menge von Kampfhunden hetzen und
zerreißen. Als sich heimlich deutsche Freikorps formierten, um Widerstand zu
leisten und die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, und deutscher
Selbstschutz die Straßen nach Zehlendorf, Potsdam und Falkensee abriegelte,
brach der offene Bürgerkrieg aus, der in Berlin einen anderen Verlauf nahm als
in anderen Zentren. Zu Beginn des Chaos’ waren im Alten Europa die
Ballungszentren islamisiert, die Umlandzonen mehr oder weniger deutsch bzw.
französisch, spanisch usw. geblieben. Für den Verlauf der Kampfhandlungen
erwies sich als entscheidend, ob es den islamischen Stadtzentren gelang, bald
ein ausreichend großes Umland unter ihre Kontrolle zu bringen und damit eine
Mindestversorgung mit Wasser, Nahrungsmitteln und Energie zu gewährleisten,
oder ob es den Freikorps gelang, die Zentren von jeder Versorgung abzuschneiden
und damit auszuhungern. Die Besonderheit von Berlin bestand darin, daß im
weiten Umfeld der Stadt vor dem Chaos zahlreiche Deutsche zum Islam
übergetreten waren. Diese Bevölkerung stellte Freikorps mit deutscher
Kommandosprache auf die Beine, die den innerstädtischen Islamisten an
Kampfkraft in keiner Weise nachstanden. Während z. B. Nordrhein-Ruhr und der
Rhein-Main-Neckar-Ballungsraum im Großen Chaos unter die Herrschaft von fremdvölkischen
Islamisten gerieten und dem deutschen Sprachraum verloren gingen, behauptete
sich in Berlin das deutschsprachige Umland gegenüber dem Stadtzentrum, obgleich
beide fortan unter islamischer Vorherrschaft.
Berlin kam
auch relativ glimpflich davon, weil es in der Stadt und ihrem Umland nicht zum
Kernwaffeneinsatz kam und nur mit konventionellen Mitteln, Gift, Nervengas und
Flammenwerfern gekämpft wurde. Dennoch wurden ganze Stadtviertel zerstört und
praktisch unbewohnbar.
Das lag
inzwischen Jahrzehnte zurück. Berlin zählte schon wieder eine halbe Million
Einwohner, die sich in den weniger zerstörten Gebieten konzentrierten. Da für
den Wiederaufbau einiger Stadtteile kein Bedarf, für eine Renaturierung aber
auch kein Geld vorhanden war, half man sich in Berlin wie in vielen anderen
einst überdimensionierten Weltstädten damit, bestimmte Gebiete als
Schutzgebiete auszuweisen und zu sperren. Schon im Reiseführer hatte Adrian
interessiert zur Kenntnis genommen, daß der gesamte frühere Stadtteil Wedding
und angrenzende Straßen zum Renaturierungsgebiet erklärt und von einer Mauer
umzogen worden waren. In den Ruinen hatte man wilde Tiere ausgesetzt und
studierte die Sukzession der Pflanzenwelt. Das Betreten des Gebietes war streng
untersagt. Jedoch konnte man sich laut Reiseführer von einigen Aussichtstürmen,
zu denen überdachte Gänge führten, vom Fortschreiten der Renaturierung
überzeugen. Während in den ersten beiden Jahren nach den großen Bränden überall
die roten Blüten von Epilobium angustifolium dominierten, breiteten sich dann Weiden, Birken, Akazien und
Götterbäume aus. An den feuchteren Stellen wucherten Chinesischer Bocksdorn und
die Armenische Brombeere. Die Füchse, die mit Waschbären und Marderhunden
konkurrierten, hatten durch einige Wölfe Verstärkung erhalten.
Auch vom
Flugzeug aus, in dem Adrian sein Gesicht neugierig gegen die Fensterscheibe
gepreßt und die Minarette gezählt hatte,
hob sich das Gebiet durch sein frisches Grün deutlich vom Umland ab. Von
Hörensagen wußte er, daß es z. B. in London, Paris und Hamburg hermetisch
abgeschottete Stadtviertel gab, in denen sich eine Art Untermenschenbevölkerung
aufhielt, die - zahlenmäßig klein - wieder auf primitivster Stufe lebte und
jeweils eine neue eigene Sprache entwickelt hatte. Davon war aus Berlin nichts bekannt, so
interessant das aus der evolutionären Sicht des Darwinismus auch gewesen wäre
und so gern Adrian ein solches Gebiet besichtigt hätte. Ausgewählte europäische Verhaltensforscher
beobachteten diese Untermenschen mit versteckten Kameras. In diesen nur mit
Lumpen und Tierfellen bekleideten Populationen war die Paarungsvariante (mit
83,2% Häufigkeit) wieder üblich geworden, bei der sich das Weibchen nach vorn
bückte und mit beiden Händen auf ihre Knie stützte und ihr Hinterteil anbot.
Die Verhaltensbiologen durften derartige interessante Beobachtungen sogar
diskutieren und publizieren, in Europa vor dem Großen Chaos undenkbar.
Wie jeder
Krieg und jede ethnische Säuberung so brachte das Chaos persönliches Leid und
unendliche Tragik. Es ging dabei ja nicht nur um Türken, Deutsche, Franzosen,
Araber usw. Am Ende konnte in einem bestimmten Territorium immer nur einer
herrschen. Im Kosowo-Krieg, so um 2000 herum, versuchten zuerst die Serben, die
Albaner, die sich wie die Kaninchen vermehrt hatten, zu vertreiben. Als die
Albaner dann Hilfe von außen bekamen, vertrieben sie die Serben. Es war, wie so
oft, immer die gleiche Geschichte. Aber als das Große Chaos ausbrach, hatten
seit 1970 hunderttausende deutsche Männer türkische Frauen geheiratet,
hunderttausende deutsche Frauen türkische Männer. Die Kinder aus diesen Ehen
sahen sich vor die Entscheidung gestellt: Sind wir nun Deutsche oder Türken?
Und es ging nicht nur um Deutsche und Türken. In Deutschland lebten insgesamt
mehrere Millionen Nachkommen aus Ehen zwischen Deutschen und Ausländern. War
ein Elternteil islamisch oder sahen sie türkisch aus, so wurden sie in die
türkische Ecke gedrängt, ob sie nun wollten oder nicht. Es wurden Personen
verfolgt, gelyncht oder aus dem Altreich vertrieben, an deren Rechtschaffenheit
nie ein Zweifel bestand, die aber keine Chance hatten, sich gegen Unrecht zu
wehren.
Im Vergleich zu diesen Zuständen während des Großen Chaos waren im Altreich die Vorgänge vor 1942 im Vorfeld der Dissipation der Juden noch geregelt gewesen und rechtsstaatlichen Grundsätzen gefolgt. Dennoch spielten sich bekanntlich im Juli 1941 im Machtbereich der sehr rasch vorrückenden deutschen Truppen, insbesondere in Nordostpolen und in Litauen, Szenen wie aus Dantes Inferno ab. Bekannt wurde vor allem das Massaker in dem Dorf Jedwabne, wo die Polen ihre 1 600 jüdischen Mitbürger umbrachten, die meisten davon in einer Scheune bei lebendigem Leibe rösteten. Erst Jahrzehnte später fanden Untersuchungen statt, warum und wieso die Verantwortlichen - sowohl die Polen und Litauer, als auch die für
diese Orte zuständigen Offiziere der deutschen Besatzung - nicht sofort vor
Kriegsgerichte gestellt worden waren. Dabei stellte sich heraus, daß einige
deutsche Einheiten sehr wohl informiert waren, ja als Folge der antijüdischen
Grundstimmung im Reich sogar passiv oder aktiv beteiligt.
Unter dem
Zweiten Führer hatten sich dann jedoch die Kreise durchgesetzt, die
Judenstämmlingen die Aufnahme in das deutsche Volk ermöglichten, anstatt sie zu
Juden zu erklären und zu enteignen, wie einflußreiche Scharfmacher forderten, und
Zehntausende Juden waren damals zu Ehrenariern erklärt worden (viele noch vom
Ersten und Größten Führer Aller Zeiten).
In dem sehr
angenehmen und sauberen Gästehaus, in dem Adrian wohnte, bediente er sich zum
Frühstück an einem reichhaltigen Büffet. Da der Kongreß erst nachmittags
begann, beschloß er, am Vormittag zu Fuß den berühmten Botanischen Garten in
Dahlem aufzusuchen und wurde nicht enttäuscht. Teile des uralten Baumbestandes
hatten das Chaos, in dem jedes freie Stück Land innerhalb der Städte mit
Kartoffeln bestellt worden war, überlebt. Ein Denkmal, auf dem ein Krieger
einem Drachen Paroli bot, war den Einheiten der Bürgerlichen Selbstverteidigung
gewidmet, die hier im Garten im Großen Chaos einst Stellung bezogen hatten.
Adrian überzeugte sich davon, daß die berühmten zahmen Meisen kein
Kindermärchen waren, die, wenn man ein paar Krumen Brot auf der flachen Hand
hielt, geflogen kamen, um sie aufzupicken. Tatsächlich, zwei Meisen flogen bis
auf seine Hand. Ausgestattet mit gut beschilderten fremdländischen Pflanzen,
wirkte der Garten insgesamt gepflegt. Die Menschen, denen er begegnete, das
waren jedoch nicht die atlantischen Typen von Artam. Adrian merkte, daß er mit
seiner Statur, Körperhöhe und Haarfarbe auffiel.
Am Abend
telefonierte Adrian kurz mit Gundula über das Netz. „Es ist alles in Ordnung.
Nur – Hagen“ - ein zwölfjähriger Sohn von Godela – „ist beim Innenkantenskaten
durch ein Mißverständnis mit einem Radfahrer zusammengestoßen und hat sich
erheblich verletzt, der Radfahrer noch schlimmer. Es sind aber Verletzungen,
die heilen werden. Na und sonst, du fehlst mir!“
„Ihr mir auch,
und wie!“
Gundula verspürte
Sehnsucht, es war gerade ihr Tag.
Seine beiden
Frauen waren eben verwöhnt. Erst in der letzten Zeit war er dahinter gekommen,
daß Gundula es liebte, gelegentlich grob angefaßt zu werden. Sie hatten sich
wegen einer Kleinigkeit gestritten, unsinnig und heftig gestritten. Da packte
er sie, warf sie auf das Sofa und machte sich ohne große Präliminarien über sie
her. Seitdem hatte die grobe Masche für beide einen besonderen Kick. Ein
kräftiger Schlag auf ihr nacktes Hinterteil, das machte sie beide mehr an, als
ein paar Minuten liebreizender Zärtlichkeiten. (Zwar kein Vergleich mit
Ludmila, aber eine deutliche Verbesserung gegenüber dem bisherigen
Nullachtfünfzehn-Eheleben.)
„In zehn Tagen
bin ich wieder zurück, solange müßt ihr es ohne mich aushalten.“ Er wollte ihr
den feuchten Finger empfehlen, verbiß sich dann aber eine derartige Bemerkung.
Gern hätte er Gundula einmal richtig ausgepeitscht und dann brutal genommen.
Aber das würde wohl für immer nur ein frommer Wunsch bleiben.
Am Nachmittag
nahm Adrian im Kongreßbüro die Kongreßmaterialien in Empfang, nur wenige Seiten
gedruckt, alles andere geeignet für seinen Schoßrechner vom Bautyp „Alleskönner“,
mit dem er auch jederzeit mit daheim, dem Weltnetz und seinem Rechner im Amt in
Verbindung treten konnte. So ein leichter Rechner erschien ihm als ein wahres
Wunderwerk der Technik. Bis in die Zeit des Großen Chaos’ hatten die
Rechnerfirmen alten Typus den Markt beherrscht. Die Meinung einiger Fachleute,
man müsse zu einer völlig anderen Architektur der Rechner finden, und zwar zu
einer Architektur, in der die Bau- und Funktionsweise des Gehirns nachgebildet
würde, fiel nicht auf fruchtbaren Boden. Erst nach dem Chaos, das damit wie
jede Katastrophe auch auf diesem Gebiet einen Neuanfang ermöglichte, begann man
erfolgreich, die Prinzipien technisch umzusetzen, die erstmals schon 2003 im
Band 18 der Zeitschrift „Chaos, Solitons and Fractals“ unter dem Titel „The
golden mean as clock cycle of brain waves“ erschienen waren. Der Goldene
Schnitt, Fibonacci-Schieberegister und das Pascalsche Dreieck wurden zur
Grundlage einer neuen Art von technischer Informationsverarbeitung, bei der die
Wellenpakete bzw. Energiequanten als Vielfache des Goldenen Schnitts skaliert
waren.
Adrian
verstand nur sehr wenig von den physikalischen Grundlagen seines Rechners,
freute sich aber, daß er auch einen Diskussionsbeitrag in Englisch, in Spanisch
und zahlreichen anderen Sprachen mühelos mitschneiden konnte. Der Rechner
übertrug das gesprochene Wort korrekt in ausdruckfähige Texte der
Originalsprache oder in eine Übersetzung und fungierte damit auch als ein
perfekter Dolmetscher. Eine Sekretärin zum Schreiben beschäftigte keiner mehr.
Adrian hielt
es für zweckmäßig, sich für diesen Abend auf sein Zimmer zurückzuziehen, um
sein individuelles Programm für den Kongreß vorzubereiten. Man hatte wirklich
gutes und sehr informatives Material verteilt: Jeder Teilnehmer hatte seinen
Beitrag in Kurz- und Langfassung eingereicht, mit Porträt und Lebenslauf, und -
wie inzwischen Standard - mit einer kompletten Vernetzung seines Textes zu
eigenen und ähnlichen Texten, den Arbeiten und Biographien der Kollegen usw.
Die Beiträge wurden nicht mehr komplett vorgetragen, wie vor 100 Jahren üblich,
sondern nur kurz eingeführt. Zu festgelegten Diskussionszeiten trafen sich die
jeweils interessierten Experten und kamen rasch – in Englisch oder Deutsch - zum
Kern der Sache.
Nur die beiden
Plenarvorträge am Eröffnungstag, wie meist bei solchen Anlässen nichts weiter
als Schwanengesänge uralter Gelehrter, folgten noch dem alten Stil. Adrian ersparte sich diese seltsame Art von
gemeinsamer Ahnenverehrung. – Am Abend konnte er nicht einschlafen. Er war zwar
auch nicht mehr der Jüngste, aber solche Enthaltsamkeitspausen war er einfach
nicht gewöhnt. Das konnte ja noch heiter werden, wenn das noch ein paar Abende
andauern sollte, so ohne etwas vor die Flinte zu bekommen. Mit dem Vorsatz,
sich spätestens übermorgen selber einen runterzuholen, schlief er dann doch
noch ein, nachdem er lange den sibirischen Wald vor dem geistigen Auge seiner
Erinnerung hatte vorbeiziehen lassen. Bäume, Bäume, Bäume und irgendwann war
man dann eingeschlafen.
Schon bei der
Durchsicht der Materialien entdeckte er eine ganze Reihe ihm bekannter Namen;
und so freute er sich Adrian am nächsten Morgen aufrichtig, als er im Foyer auf
Jan Brand aus Edinburgh stieß. Welch ein Wiedererkennen und Händeschütteln! Sie
waren sich schon in Vancouver begegnet, hatten sich aber ihre Teilnahme an
diesem Kongreß in Berlin vorher nicht gegenseitig angezeigt.
„How do you
do?“ Und ich hau den anderen usw.
Jan war –
zumindest nach den sittenstrengen Maßstäben von Artam - ein ganz unkonventioneller
Typ, zweimal geschieden, aber mit Kinder und Enkeln aus diesen Ehen, und jetzt
mit einer viel jüngeren attraktiven Chinesin verheiratet, die ihn aber diesmal
nicht begleitete. Die Universität in Edinburgh hatte ihn entlassen, da er den
sexuellen Umgang mit Kindern für Lärm um nichts und als nicht schädigend für sie
ansah; einfach um des Prinzips Freiheit willen. Seitdem schlug er sich als eine
Art Privatgelehrter durch. Mit beißendem Spott verstand er, Tendenzen zu
geißeln, die bloße Mode waren, verstand, den Menschen die Maske
herunterzureißen. Er hatte einen entwickelten Sinn für das Dauerhafte und
Tiefgründige. Ein von ihm verfaßtes gesellschaftskritisches Buch war zwar
gedruckt, aber dann vor der Auslieferung in den Buchhandel eingestampft worden
und nur in wenigen Exemplaren erhalten. Jedoch konnte man den Volltext im
Weltnetz studieren. Schon merkwürdig, daß er und Adrian sich gegenseitig
schätzten und Jan mit seiner damaligen Lebensgefährtin Abigail sogar schon in
Reichsburg gewesen und einmal ganz überraschend (er hatte in Odessa an einer
wissenschaftlichen Tagung teilgenommen) beim Geburtstagskaffee von Godela
aufgetaucht war.
Jan war ein
Türöffner. Mit seinem Englisch hatte Adrian in Vancouver einige Schwierigkeit
gehabt. Es galt als unhöflich, ständig auf einen Rechner als Sprachhilfe
angewiesen zu sein. (Elektronische Ohrwürmer, die man sich einsetzen lassen
konnte und die mit einem externen Rechner in Verbindung standen, waren erst im
Kommen und noch sehr teuer.) Am Abend
dort stand Jan - zusammen mit einem zweiten Kollegen aus Edinburgh - beim Bankett neben Adrian, der glaubte, sein
mangelhaftes Sprachverständnis läge an der Geräuschkulisse der Gäste. Als er
sich darüber bei einer Gruppe Nordamerikaner beklagte, meinten die aber: „Wir
verstehen die beiden auch nicht. Das ist Schottisch, schottisches Englisch.“
Ach so. Allein, ohne Landsmann, aber gab sich Jan Mühe und sprach halbwegs
Oxford-Englisch.
Jan brachte
denn auch schon am zweiten Abend eine Tischrunde zusammen, die aus lauter
nichtalltäglichen Persönlichkeiten bestand. Ein blonder Holländer namens Van
der Vecken, einst Segel-Olympiasieger und viel in der Welt herumgekommen -
Fachmann für genetisches Ingenieurwesen zur Behebung von Homosexualität bei
Säugetieren und Mensch - haftete in Adrians Erinnerung. Dann eine Frau
Professor Nett aus Gießen, die herzhaft lachen konnte und nicht nur nett,
sondern sehr nett war und und offensichtlich eine alte Bekannte (und vielleicht
gelegentlich mehr) von Van der Vecken. Ihre Spezialstrecke war die
Persönlichkeitspsychologie, insbesondere die genetische Konvertierung von
Perversionen. Van der Vecken schlug vor: „Wir bestellen jeder eine große Platte
Essen, aber jeder eine andere.“
Jeder bekam so
die Gelegenheit, auch von den anderen Platten zu kosten. Den Hauptgesprächsthemen
an diesem Abend und an diesem Tisch waren die Sodomie, insbesondere mit Ziegen
- die Van der Vecken für besonders geeignet hielt - sowie die Verbreitung des
Kannibalismus während des Großen Chaos, insbesondere das Verzehren von
gebratenen Geschlechtsteilen und die darin liegende Symbolik. Jan Brand, Nett
und Van der Vecken stritten sich darüber, ob das bei den Azteken auch üblich
war oder mehr Wert auf das Herz der Schlachtopfer gelegt wurde. Adrian konnte
da zwar nicht mitreden, erfuhr aber viel Neues, und darin lag ja der
eigentliche Sinn eines jeden Kongresses. Er hätte ja auch einfach auf seinem
Kleinstsprechrechner, den er bei sich trug und der einem den Zugang zu jeder
Enzyklopädie und Millionen gedruckter Bücher auf dem Weltnetz gestattete, zu
den Opferbräuchen der Azteken nachfragen können, aber das wäre ein Fauxpas
gewesen.
Was die
eigentliche wissenschaftliche Seite anbetraf, so übertraf der Kongress die
Erwartungen. Hatte Adrian schon in Vancouver den Eindruck, daß in der Welt
Entwicklungen abliefen, bei denen Artam ins Hintertreffen zu geraten drohte, so
verstärkte sich in Berlin für ihn dieser Eindruck bis zur Gewißheit. Das
brachte ihn aber in eine Zwickmühle, die ihm mit jedem Kongreßtag mehr
Kopfzerbrechen zu bereiten begann. Er mußte nach seiner Rückkehr in Reichsburg
über seine Eindrücke und Einschätzungen einen umfangreichen Reisebericht
schreiben, der nicht nur den Dienstweg gehen, sondern auch beim Zentralen
Gewissen gelesen und geprüft werden, ja vielleicht in einer von Dritten
verdünnten Kurzform von höchstens zwei Seiten bis in den Stab des Führers
gelangen würde. Und das zu einem Zeitpunkt, da man über sein Gnadengesuch wegen
Ludmila und German noch nicht entschieden hatte. Adrian mußte also jedes Wort seines Berichts
auf die Goldwaage legen.
Damals, nach
Vancouver, war ihm die Berichterstattung wesentlich leichter gefallen. Traumhaft,
diese Reise. In jeder Beziehung! Zum erstenmal überhaupt durfte er ins Ausland.
Und dann gleich nach Vancouver, das sich nach dem Großen Chaos zur
bedeutendsten Stadt Nordamerikas entwickelt hatte. Mit einer
Passagier-Überschallmaschine der „Lufthansa Artam“ flog er direkt und ohne
Zwischenlandung von Reichsburg nach Vancouver. Er preßte seinen Kopf an die
Fensterscheibe, als die zerklüftete Nordküste Grönlands unter ihnen vorbeizog.
Der Norden Kanadas hingegen, nichts anderes als die gleiche unendliche Tundra
und Taiga, wie er sie von Sibirien her kannte.
Der Anflug auf
Vancouver erfolgte von der Pazifik-Seite aus in einem großen Bogen. Er hatte ja
schon viele Bilder gesehen, aber das eigene Erleben einer fremden Weltstadt war
doch noch etwas anderes. Vancouver! Die Hauptstadt von Ecotopia, einem der
wenigen Staatsgebilde, das relativ heil durch das Große Chaos gekommen war und
sich danach zur Führungsmacht des neuen Nordamerikanischen Staatenbunds
aufgeschwungen hatte. Als die Zahl der Weitblickenden, die das Große Chaos
nahen sah, wuchs und ihre Einsicht zunahm, daß es keine Rettung für alle gab,
hatte sich in British Columbia, Alaska, Washington, Oregon, Idaho und dem
Nordteil von Kalifornien eine politische Organisation gebildet, die
systematisch und zielgerichtet die Bildung des Separatstaats Ecotopia
vorbereitete und vorantrieb. Das kannte
Adrian aus dem Geschichtsbuch von William Weston. Obwohl der neue Staat eine
nachhaltige Wirtschaftsweise zu seinem politischen Ziel erklärte, erwies sich
das, je wirrer sich der chaotische Verfall gestaltete, als Utopie, denn die
Hauptanstrengungen mußten darauf gerichtet werden, die militärischen
Selbstverteidigungskräfte zu stärken und die illegale Zuwanderung abzuwehren.
Während Nordamerika in dem Rassenkrieg versank, den Earl Turner in seinen
fiktiven Tagebüchern vorweggenommen hatte, wenn auch mit einem anderen Ausgang
als in der späteren Wirklichkeit, konnte der soziale Frieden in Ecotopia
bewahrt werden.
Nicht der
Stanleypark - unmittelbar neben dem Stadtzentrum und zu Fuß erreichbar - mit
seinen riesigen Douglasien und dem verträumten Beaver Lake voller Seerosen,
beeindruckte Adrian in Vancouver am meisten, nicht der wilde Lachs, der in
jedem Lokal auf den Tisch kam, sondern die Menschen. Bereits vor 2000, als die
Briten Hongkong unter dem Druck der Ostasiaten endgültig räumten, hatten sich
hunderttausende wohlhabende Chinesen in Vancouver angekauft. Die freiere und
wirtschaftlich dynamische Westküste Nordamerikas zog Ostasiaten zu Millionen
an, auch zehntausende Inder mit einer vorzüglichen Ausbildung in
Hochtechnologieberufen. Schon um 2010 stellten die Ostasiaten in Vancouver die
Hälfte der Einwohnerschaft. Hier gelang in einem noch aufnahmefähigen Raum
einer überdurchschnittlich intelligenten, innovativen und dynamischen
Bevölkerung das, was in allen anderen Weltteilen scheiterte. Die Obdachlosen
(die in Artams Zentren nichts im Stadtbild zu suchen hatten), sammelten in
Vancouver den Müll von den Straßen und in den Parks und erhielten für einen
Sack Müll einen Essengutschein. Vancouver blitzte vor Sauberkeit. In Ecotopia
und in Singapore gingen der Traum von einer multikulturellen, ja
multirassischen, Gesellschaft in Erfüllung. In einem großen öffentlichen
Speiserestaurant gleich neben Adrians Hotel gab es viele kleine Läden, in denen
man Spezialitäten aus allen Weltteilen kosten und kaufen konnte, chinesische,
japanische, koreanische, mexikanische usw., aber auch Bratwurst mit Sauerkraut.
Alles deutete darauf hin, daß sich in Ecotopia eine neue Mischrasse
herausbildete. Als er den wunderschönen Van-Dusen-Park besuchte, wurden dort
gerade vor einer Kulisse erlesener Prachtstauden drei Paare feierlich getraut,
von denen je ein Partner Weißer war und der andere Ostasiate. Die
Hochzeitsgäste sprachen untereinander Englisch. Adrian hätte seine Eindrücke
gern den Rassendogmatiker zu Hause vermittelt, hielt es aber für klug, im
Reisebericht überhaupt nicht darauf einzugehen. Auch Godela und Gundula, denen
er gern ein etwas freieres Weltbild vermittelt hätte, schienen ziemlich
ungläubig oder hörten gar nicht richtig hin, wenn er von Vancouver schwärmte.
Gundula meinte
sogar: „Es wäre besser, die Kinder nicht mit solchen Nachrichten zu verwirren.“
Je mehr er auf
dem Berliner Kongreß erfuhr, desto deutlicher erkannte er die Probleme. Aber
wie das seinen Arbeitgebern nahe bringen? Damit sie richtige Schlüsse zogen und
nicht die schlechte Botschaft dem Überbringer zu dessen Nachteil auslegten.
Adrian machte es sich selbst durch Vergleiche klar: Wer schlecht sah, konnte
eine Brille tragen. Wer Alterszucker bekam, konnte Medikamente nehmen. War
ursprünglich Diabetes I 1933 als eine Erbkrankheit definiert worden, gegen die
in der Rassezucht des Schwarzen Korps selektiert wurde, d. h. als eine
Eigenschaft, die Erb- und Zuchtwerte
sehr stark herabsetzte, so hatte sich diese Bewertung mit der Entdeckung des
Insulins und seiner leichten Verfügbarkeit verändert. Für Artam nicht
grundlegend, denn man selektierte grundsätzlich gegen alle Merkmale, die
Gesundheitskosten verursachten, also z. B. auch gegen Altersdiabetes bzw.
Diabetes II. Dem Nicht-Brillenträger schrieb man einen etwas höheren Zuchtwert
als dem Brillenträger zu, wenn alle
anderen Merkmale gleich waren. Beim Schwarzen Korps und seinen
Familienangehörigen lagen die relativen Gesundheitsausgaben für Menschen im
jungen und mittleren Lebensalter so niedrig, wie bei keiner anderen Bevölkerung
der Erde. Aber jetzt, gegen Ende des 21. Jahrhunderts, als die Weltwirtschaft
und die Wissenschaft wieder Tritt zu fassen begann und das Große Chaos lange
zurücklag, zeichnete sich eine Entwicklung ab, die für viele Merkmale eine
Neubewertung erforderte.
Drei Generationen
nach der Entzifferung des Genetischen Kodes des Menschen hatten das Genetische
Ingenieurwesen, das Verständnis der biochemischen Netzwerke, die Pharmakologie
und das Biopharming einen Stand erreicht, der für das 22. Jahrhundert Dinge
versprach, die 1932, als Himmel das Zuchtziel des Schwarzen Korps formuliert
hatte, nicht einmal in der kühnsten Utopie vorstellbar waren. Woche für Woche
wurden neue Durchbrüche in der Molekulargenetik und ihren vielfältigen
Anwendungen gemeldet. Der Kongreß, an dem Adrian teilnahm, stellte eine
beeindruckende und faszinierende Leistungsschau einer neuen Weltsicht dar, das
begriff er jeden Tag besser. In Artam selektierte man noch gegen
Geisteskrankheiten, während hier auf dem Kongreß Verfahren vorgestellt wurden, wie die
wichtigsten verursachenden Gene oder Risikogene für diese Krankheiten genetisch
verändert, in ihrer Expression zum Schweigen gebracht oder durch Arzneimittel
ausgeschaltet werden konnten. Das mit zum Teil niedrigen Kosten, hoher
Erfolgsrate und rascher Wirkung.
Eines der
zentralen Zuchtziele Artams war stets die Selektion der Intelligenzgene gewesen
und geblieben. Bereits 1869 hatte Francis Galton in seinem Buch „Hereditary
Genius“ auf der Grundlage umfangreicher Datenerhebungen festgestellt, daß 100
berühmte Naturwissenschaftler und Mathematiker 25 berühmte Väter der gleichen
Leistungsklasse hatten; 47% ihrer Brüder gehörten dazu, 60% der Söhne, 14% der
Großväter, 16% der Onkel, 23% der Neffen, 14% der Enkel, 5% der Onkel der
Eltern, 16% der Cousins und 7% der Urenkel. Diese Zahlen bestätigten der
Nordamerikaner Dean R. Brimhall (1922) bei Wissenschaftlern und M. H. Oden
(1968) bei den Hochbegabten der Terman-Studie sowie V. Weiss (1994) bei den
Spitzenleuten von Mathematik-Leistungswettbewerben für Schüler. Obwohl die sich
daraus ergebende Überlegung einfach war, gelang es erst 2009, die hinter diesen
Zahlen
[2]
stehende Logik in ihrer
Konsequenz zu begreifen und die molekulargenetischen Grundlagen für hohen IQ zu
entdecken. Dabei war es doch eigentlich einfach: Wenn ein Gen bzw. die
Schalterstellung eines Gens – ein Allel – in einer Bevölkerung sehr häufig bzw.
nur allein vorhanden ist - z. B. die Anlage, zwei Beine zu haben - dann sind
alle oder nahezu alle Verwandtschaftsgrade zu 100% Merkmalsträger, also 100%
der Väter und auch 100% der Urenkel haben zwei Beine. Ist ein Allel sehr
häufig, eine zweite Schalterstellung (um 2000 sprach man unter Fachleuten von
SNP oder einer Deletion usw.), die das gesuchte Merkmal allein oder in
Kombination mit anderen Genen verursacht, aber sehr selten, dann haben zwar
100% der Merkmalsträger die seltene Kombination, bei den entfernten
Verwandtschaftsgraden, Urenkel, Urgroßvater und Cousins der Eltern, geht die
Häufigkeit aber bereits gegen 0%. Das gilt z. B. für Autismus.
Das heißt, aus
den Prozentzahlen unter den Verwandten läßt sich die Matrix der
Übergangswahrscheinlichkeiten schätzen und damit die Häufigkeit des gesuchten
Allels, in Falle der Zahlen von Galton die Häufigkeit des Hauptgens, das für
hohe Intelligenz und Kreativität unabdingbar ist, noch dazu sich in den
Familien die Aufspaltung der Hochbegabung in Übereinstimmung mit den
Mendelschen Gesetzen nachweisen läßt. Aus den Zahlen von Galton ergibt sich
eine Genhäufigkeit von etwa 0,20, das heißt, 0,20 mal 0,20 aller Personen - das
sind etwa 4% der Bevölkerung - haben das gesuchte Allel auf beiden Chromosomen
und damit in reinerbigem Zustand und einen IQ von über 124. Als man 2008 in
Artam in einer großen Untersuchung nach Intelligenzgenen unter mehr als einer
Million SNPs suchte, brauchte man bei den Hochbegabten (ihr Test-IQ lag über
130) nur auf die gemeinsame Reinerbigkeit bei häufigen Allelen zu achten und
fand so endlich das lange gesuchte Hauptgen. Denn schon bei nur bei drei
Hochbegabten ist die rein zufällige Übereinstimmung eines 0,20 häufigen Allels
die dritte Potenz von 0,04 und schon bei zehn Hochbegabten ist zufällige
Reinerbigkeit damit so gut wie ausgeschlossen. In einer Voruntersuchung hatte
man in Familien mit mehreren Hochbegabten deren DNS hybridisiert und so die
homologen Abschnitte bestimmt, in denen die Gene für Hochbegabung liegen
müssen, und so den Suchraum eingeengt.
Man fand, daß
bei Hochintelligenten die energieliefernden Redox-Stoffwechselschritte im
Gehirn rascher und wirksamer ablaufen. Die mit dem EEG meßbaren Hirnwellen sind
schneller, die Eigenschaften der Außenwelt werden rascher erfaßt und begriffen
und die Antwort-Reaktionen erfolgen mit kürzerer Verzögerung als bei
Wenigintelligenten mit ihrer sprichwörtlich langen Leitung. Der durchtrainierte
hochintelligente Kamerad erkennt im Gefecht blitzschnell die Gefahr und ist
ohne Zaudern gefechtsbereit. Adrian hatte das in Sibirien mehrfach selbst
erlebt. Und nichts geht dabei über einen umsichtigen Offizier, der die
Kampfgruppe führt.
Adrian wußte:
Um 2005 war bereits bekannt, daß das Bruttosozialprodukt eines Landes in
direktem und linearem Zusammenhang mit dem Anteil der Personen steht, die einen
IQ von 105 und höher haben. In eurasischen Bevölkerungen entspricht diesem
„Klugen Teil“ aber genau der
Bevölkerungsanteil, der das Allel für hohe Intelligenz in reinerbiger oder
mischerbiger Form in sich trägt. Einen IQ von 105, den braucht eben schon der
Händler, wenn er einen kleinen Laden betreiben will, der Handwerksmeister, wenn
er wirtschaftlich arbeiten will. Fehlten diese Leute, wie in weiten Gebieten
Schwarzafrikas bzw. beträgt ihr Anteil an der Bevölkerung nur wenige Prozent,
dann kann sich gehaltvolles wirtschaftliches oder politisches Leben in solchen
Landstrichen von allein nicht entwickeln oder brach nach dem Abzug bzw. der
Vertreibung der Weißen zusammen. In den wirtschaftlich blühenden, gemäßigten
Gebieten Eurasiens gehörten hingegen um 1980 noch rund 40% der Bevölkerung zu
diesem „Klugen Teil“ mit einem IQ von 105 und höher, ehe auch hier auf dem Weg
ins Große Chaos der Niedergang einsetzte.
Die gezielte
Zucht auf hohe Intelligenz und Kreativität und die Suche nach selteneren
Varianten und Wechselwirkungen mit zahlreichen anderen Genen war seit 2007 in
Artam ein wichtiges Forschungsthema. Zucht und Auslese brauchen beim Menschen
aber Generationen, d. h. viele Jahrzehnte und Jahrhunderte, um wirksam zu
werden. Nunmehr zeichnete sich ab, daß man solche Hauptgene durch die Kunst der
genetischen Ingenieure würde übertragen können, daß man sogar effektivere
Allele synthetisieren und erproben konnte, daß man die Stoffwechselwege auf
verschiedene Weise blockieren oder freischalten konnte. Ein “Erekton für den
Geist“, das war keine Utopie mehr, sondern immer mehr Wirklichkeit und Alltag.
Gegenüber diesen Fortschritten der molekularen Forschung erfolgte der
Fortschritt mit Methoden der klassischen Leistungs- und Merkmalsselektion, wie
sie Himmel und Darrer 1932 für das Schwarze Korps zum Dogma erhoben hatten, nur
im Schneckentempo. Nicht nur gegenüber Ostasien und Nordamerika, sondern auch
in Artam selbst gegenüber dem Clan, der dem genetischen Ingenieurwesen und der
artifiziellen Insemination beim Menschen nicht mehr grundsätzlich ablehnend
gegenüberstand, mußte das Schwarze Korps ins Hintertreffen geraten, wenn man
starr an den bisherigen Grundsätzen festhielt. Dabei war das starre Festhalten
ein Widerspruch an sich. Während Artam mit seiner Forschung bei der Züchtung
von Nutztieren, Nutzpflanzen und der Biotechnologie der technischen Mikroorganismen
absolute Weltspitze darstellte und genetisches Ingenieurwesen,
Embryonentransfer und künstliche Insemination zum täglichen Handwerkszeug der
Tierzüchter gehörten, gab es unverkennbare Rückstände im humanen Bereich. Das
Dogma der Führung, das alle technischen Eingriffe von der Kindererzeugung
fernzuhalten suchte, hielt zwar auf diese Weise einen Kostenfaktor niedrig, man
erreichte aber damit keine optimalen Ergebnisse mehr. Gesellschaften, die das
Wissen um die genetische Ausstattung mit Methoden der schnellstmöglichen
Vermehrung der leistungsfähigen, zum Teil im Labor synthetisierten, Varianten
kombinierten, also mit künstlicher Insemination, Embryotransfer,
Präimplatationsdiagnostik, massenhafter Leihmutterschaft, extrauterinen Brütern
usw., würden im 22. und 23. Jahrhundert das Schwarze Korps und Artam
überflügeln, wenn es nicht zu Reformen seiner inneren Verfassung und Werte
fähig sein sollte. Das erkannte Adrian mit aller Deutlichkeit.
Bereits auf
dem Rückflug konzentrierte sich sein Blick mehr auf den Bildschirm seines
Schoßrechners, als die Bergspitzen der Hohen Tatra, die im Süden auftauchten.
Wie sollte er seine Einsicht in passende Worte kleiden? In Worte, die bei den
Mächtigen eine Chance hatten, auf fruchtbaren Boden zu fallen. Adrian geriet in
eine pessimistische Phase und machte sich wenig Hoffnung, irgendetwas bewirken
zu können. Erfahrungsgemäß handelten Politiker erst dann, wenn es zu spät war.
Und doch: Artam war einmal groß geworden, weil an seiner Spitze echte Visionäre
standen, die nicht in Legislaturperioden von wenigen Jahren dachten, sondern in
Generationen und gegen ihre Zeit. Aber das war lange her. Jetzt mußte der
Führer in seiner ganzen Tragweite begreifen, daß durch die genetische
Ingenieurkunst die Zeiträume, in denen man tief greifende Wirkungen erzielen konnte,
kürzer geworden waren als die Dauer von Generationen. Man mußte dem Führer und
seinen Stab nach bestem Wissen und Gewissen informieren, klar und eindringlich
schreiben und sprechen. Man mußte dem Führer vertrauen. Adrian würde dem Führer
vertrauen: Denn einer mußte sein, der
für alle die Träumenden denkt. Einer mußte sein, der die Schritte der vielen
lenkt. Einer mußte sein, der alle zusammenreißt, der das vielfache Wollen zu
einem zusammenschweißt. Einer mußte sein, der das Schicksal der Rasse hält, der
sich entscheiden kann und die Entscheidung fällt. Einer muß sein, dessen Sinn
in die Zukunft zielt. Viele ficken, doch einer muß sein, der befiehlt. - Die
ersten Sätze seines Berichts fanden ihre Form.
Noch einmal
schweiften seine Gedanken nach Berlin zurück. Am letzten Abend schlenderte er
allein Unter den Linden. In einem Antiquariat stieß er auf Kosseks Buch und
kaufte es. Die Gebäude an der Straße waren im wesentlichen wieder aufgebaut
worden, nicht aber das Brandenburger Tor. Vor der Neuen Wache, jetzt den Toten des Großen Chaos gewidmet, erlebte Adrian die Wachablösung mit
klingendem Spiel. Vor dem Hotel Ecke Friedrichstraße stand ein gut gewachsene
große Frau mit blond gefärbten Haaren, aber seriös und geschmackvoll gekleidet.
(Irgendetwas erinnerte Adrian an Ludmila.) Was sie anzubieten hatte, war
unschwer zu erraten. Adrian ging mit ihr in Richtung Bahnhof Friedrichstraße.
Sie wollte 300 Euro. Adrian meinte, dieser Preis entspräche nicht ihrer
Oberweite. Verärgert verschwand die Blondgefärbte im Bahnhofseingang, und
Adrian schmunzelte. Ja, nach 10 Tagen, weg von zu Hause und seinen Frauen,
konnte einem schon das Verrückteste einfallen! Obwohl er unter Druck wie ein Dampfkessel stand, war es ihm keine Minute
Ernst gewesen.
Zu Hause würde
es ein stürmisches Wiedersehen geben, und er freute sich darauf. Nach so einer
langen Durststrecke würden beide Frauen richtig heiß sein. Seine Phantasie
konzentrierte sich auf die Vorstellung ihrer inneren Schamlippen, die bei
beiden Schwestern (anders als bei Ludmila) über die äußeren hinausragten. Im
erregten Zustand zwei feuchte Lappen, die Adrian als unverwechselbare Merkmale
ihrer persönlichen Schönheit empfand.
Mit einer
geringen Dosis Erekton würde er - mit einer Pause dazwischen - allen
Anforderungen binnen einen Tages gerecht werden können. Nicht zu dritt, das
galt in der Regel als nicht anständig, sondern stets nur unter vier Augen. Er
würde Godela ein paar Minuten hinhalten, ehe er sie zum Höhepunkt kommen ließ,
sie ein wenig quälen mit drei- oder viermal Stellungswechsel. Desto heftiger
und erlösender würde dann ihre Entspannung sein. Mit Gundula ging das dann
später nur noch ohne Umschweife und Verzögerung, sonst würde er sein Stehvermögen
überfordern. Nichts ging doch über ein züchtiges natürliches Verhalten, und
eigentlich haßte Adrian alle medizinischen Zutaten, die in irgendeiner Weise
dem reinen Vergnügen Abbruch taten, so wie auch sein Führer derartige
Manipulationen verachtete und haßte.
Spätabends im
Dunkeln flog er zurück. Schon vor dem Abflug hatte Adrian im Foyer begonnen, in
dem Buch von Kossek zu blättern, und im Flugzeug las er weiter. Zweifelsohne,
die Schwarte war eine einzige geistige Sauerei.
Als Adrian auf dem „Großflughafen Franz August Strauss“
(benannt nach einem früheren verdienstvollen Gauleiter von Herzland) in
Reichsburg landete, flimmerte über den Bildschirm im Wartesaal eine Reportage
über die Parade der Handschar in Baku. Ihr Kommandant Bassajew ließ sich
feiern. Grüne Fahnen dominierten. Unverkennbar seit einigen Jahren, daß eine
immer größere Zahl von eigenen Regeln und Gesetzen die Gebiete, die unter der
unmittelbaren Kontrolle der Handschar standen, vom übrigen Reich unterschieden
und absetzten. Konnte so etwas gut gehen?
[1] Kremp, Herbert: Memoiren der Zukunft: Deutschland 2050 – ein Rückblick. Norderstedt: Books on Demand 2003. ISBN 3-8334-0228-8