Ahlfen war
versetzt, die gesamte Abteilung Rassenschichtenkunde aufgelöst worden. Das
hieß, an eine Neuauflage ihres Handbuches war nicht mehr zu denken. Obwohl es
keinerlei Mitteilung über die Auflösung der Abteilung gab, war Adrian und ein
paar anderen das Fehlen von Ahlfen schon am ersten Tag aufgefallen. Man konnte aber nur erfahren: “Er ist
versetzt“, und nichts anderes.
Am fünften Tag
recherchierte Adrian im Rechner, ob da nicht etwas Genaueres zu finden wäre.
Weichenstellungen in der Karriere, die von den Persönlichkeitsmerkmalen
abhingen, mußten sich irgendwie in den Erbwerten reflektieren und wurden
deshalb in den Daten vermerkt, die ihm ja dienstlich zugänglich waren.
Tatsächlich, er fand eine erst vor einer Woche gemachte Eintragung: Hauptsturmführer
Ahlfen, versetzt östlich des Ural. Das bedeutete, daß er ihn vermutlich nie
wiedersehen würde und aus seinem Bekanntenkreis streichen konnte. Es wußte, es
hatte wenig Sinn, Verbindung aufnehmen zu wollen.
Adrian begann,
am System zu zweifeln. Wenn sein Verhältnis mit Ludmila aufgedeckt würde, was
geschähe dann mit ihm? Es hieß aber doch, die Zeiten von Willkürakten seien
vorbei und es herrsche Rechtssicherheit.
Er erinnerte
sich ungern an den schlimmsten Fall, der ihm einmal zufällig (der Verurteilte
hatte Jahre vor seinem „Verbrechen“ einen Fachtext verfaßt, den Adrian gesucht
hatte) in den Unterlagen unter die Hände gekommen war: Das Todesurteil gegen
den Regierungsrat Dr. Theodor Kosselt
[1]
. Am 1. August 1943 äußerte
Kosselt unter vier Augen in der Straßenbahn in Rostock gegenüber einem
Bekannten, dem Stadtrat Krause, daß der tödliche Unfall des Größten Führers
Aller Zeiten im November 1941 für das Reich eigentlich ein Glücksfall gewesen
sei, weil dadurch die vom Führer angestrebte Unterdrückungspolitik im Osten
durch klügeres Handeln ersetzt wurde und der drohende Krieg gegen Nordamerika
unterblieb. Also genau das Szenario beschwor, welches der Ausgangspunkt von
Kosseks Skandalbuch war. (Man müßte sich doch einmal die Zeit nehmen, das Buch
näher anzusehen! Der Gedanke kam Adrian zum wiederholten Male.) Krause zeigte
damals Kosselt an, und der Volksgerichtshof unter Fressler verurteilte Kosselt
zum Tode. Das Urteil wurde am 25. August 1943 vollstreckt. Die
Urteilsbegründung, die Adrian mit Entsetzen gelesen hatte, lautete: „Kosselt
sagt nun, er habe Krause nur das gesagt, was er auch denke. Das entlastet ihn
aber gar nicht. Ein Deutscher, noch dazu ein höherer Beamter, der dem Führer
Treue geschworen hat, denkt nicht so. Sein Eid auf den Führer begründet ein
atlantisches Treueverhältnis, das den ganzen Mann ergreift und nicht, wie er in
der Hauptverhandlung meinte, nur seine dienstliche Tätigkeit. Ein Deutscher,
noch dazu ein Mann, der gebildet sein will, der so redet wie Kosselt, schwächt
unseren Willen zu mannhafter Wehr in unserem jetzigen Schicksalskampf, der bis
zum letzten angespannt werden muß, weil wir siegen wollen und müssen. Er
arbeitet also an der Zersetzung der inneren Front. Er hilft damit unserem
Kriegsfeind. Wer unserem Kriegsfeind hilft, hat sich dadurch selbst für immer
ehrlos gemacht. Unserem Siege ist es der Volksgerichtshof schuldig, einen
solchen treulosen Verräter zum Tode zu verurteilen.“
Daß Kosselt
sich ungeschickt verteidigt hatte, war offenkundig. Aber daß man ein
Todesurteil auf ein vertrauliches Vieraugengespräch gründete, war für Adrian
irgendwie unfaßbar! Das hieß doch nichts anderes, als daß im Krieg die Äußerung
von Gedanken auch unter vier Augen nicht frei war. Das Reich und Artam in
seiner Rechtsfolge befanden sich aber seit einem anderthalben Jahrhundert im
erklärten oder unerklärten Krieg. Im Nachhinein konnte man dem 1943 zum Tode
Verurteilten in der Sache vielleicht sogar Recht geben. Das zählte aber gar
nicht, sondern nur die am Führer geübte Kritik. Offiziell waren derartige
Urteile in Artam niemals hinterfragt oder gar mißbilligt worden, aber durch die
88-er desto entschiedener und heftiger im Altreich. Daß mit einer solchen Art
von Meinungsunfreiheit ein Staat auf die Dauer nicht zu regieren und
fortzuentwickeln war, hatte die Führung von Artam inzwischen längst begriffen
und offiziell dieser Art von Gesinnungsterror abgeschworen. Aber die mangelnde
öffentliche Kontrolle über die völlig undurchsichtige Tätigkeit des Zentralen
Gewissens verbreitete Zweifel und Unsicherheit, die Adrian nicht zum ersten Mal
mit Beklemmung erfüllten. Die „Versetzung“ von Ahlfen gab dieser Beklemmung
einen neuen Nährboden. Wer und was steckte dahinter? Hatte der Handschar-Flügel
triumphiert? Und was sagte der Führer dazu? Wenn er je davon erfuhr!
Beunruhigt war
Adrian auch, weil Reitmeier ihn wieder wegen der Denkschrift von Weisman,
Fredkin und Jung angesprochen hatte. Reitmeier stellte eine ganz konkrete
Fachfrage: „Um wieviel Prozent könnte man das Selektionstempo maximal erhöhen,
wenn zu jedem natürlich gezeugten Kind ein, zwei oder drei Kinder hinzukämen,
die durch Leihmütter ausgebracht würden?“
Entsprechende
Modellrechnungen befanden sich in der Denkschrift, das wußte Adrian. Er hatte
aber ausweichend geantwortet und gemeint: „Ich werde mich umsehen, ob irgendwo
ein entsprechendes Rechenprogramm gespeichert ist.“
In Reichsburg
brütete eine Backofenhitze. In den klimatisierten Räumen und Gängen des Amtes
blieb die Temperatur zwar konstant, doch draußen versengte einem der Beton und Asphalt
die Füße. Nur in den baumbestandenen Grundstücken war es morgens und abends
erträglich. Wenn der Wind auf Nordost oder Nordwest drehte, dann wurde es
stickig und man konnte die fernen Moorbrände riechen, deren man in diesem
Sommer wieder einmal nicht Herr wurde. Dabei liefen die Vorbereitungen für die
Reichswettkämpfe, die nur alle vier Jahre zur Sommersonnenwende stattfanden,
auf Hochtouren. In allen Ämtern machten die Kameraden Überstunden. Tausende
junger Leute waren in und um Reichsburg untergebracht, um die
Massendarbietungen im Stadion der Dreihunderttausend vorzubereiten, die im
Beisein des Führers den Höhepunkt des Reichswettkampfs darstellten. Auch
Gunter, Giselher und Helga Schwarz standen in den Teilnehmerlisten. Ein ganzes
Jahr lang wurden die einzelnen Elemente in kleinen Gruppen geübt, dabei auch
viel gelacht und gesungen. „Heilige Glut, heilige Glut, rufe die Jugend
zusammen, daß bei den lodernden Flammen, wachse der Mut“, so schallte es durch
die Siedlung.
Dann galt es,
die Gruppen zu großen Schaubildern zusammenzuführen und jede einzelne Übung in
jedem Detail aufeinander abzustimmen. Man brauchte mehrere Wochen, bis eine
Übung perfekt war und vor dem unbestechlichen Auge des Führers bestehen konnte,
bis sich Tausende von blonden, jungen, fast unbekleideten Menschen in
vollkommenem Gleichklang und mit hoher athletischer Meisterschaft bewegten,
liefen, hüpften, sprangen, sich zu großen Gruppen zusammenballten, einzelne aus
ihrer Mitte in die Höhe schleuderten und sie wieder mit den Händen oder in den
Sprungtüchern auffingen und sich dann wieder zu Einzelübungen verteilten, bei
der jeder jeden Arm und jedes Bein genau im gleichen Takt und im gleichen
Winkel zu einer einprägsamen rhythmischen Musik bewegte. Bei jedem neuen
Reichswettkampf versuchte man, den vorhergehenden an menschlicher Masse,
Schwierigkeit und Perfektion zu übertreffen, noch eindringlichere Musik zu
komponieren, auch wenn das schier unmöglich erschien und letztendlich nur von
den darüber berichtenden Medien behauptet wurde. Denn es galt ein
ungeschriebenes Gesetz: Von diesen Vorführungen im Stadion der
Dreihunderttausend durften keinerlei Aufzeichnungen gesendet werden. Man mußte
selbst im Stadion sein, es selbst erleben. Obwohl das Hauptprogramm innerhalb
von zwei Wochen mehrfach wiederholt wurde, gab es nie genug Karten.
Besonders
begehrt war der eine Tag, an dem der Führer persönlich erschien. Auf diesen
einen Tag strebten die Wettkämpfe wie ein sich sammelnder Strom hin, und
derjenige konnte sich glücklich schätzen, der dafür eine Eintrittskarte besaß.
Ein Teil der Karten war kontingentgebunden, ein Teil wurde zu horrenden Preisen
verkauft, insbesondere ins Ausland, ein Teil verlost. Selbst ein Mann wie
Adrian in seinem Dienstrang konnte nur einmal in 20 Jahren damit rechnen, eine
Karte für den Tag zu bekommen, an dem der Führer den Massenleibesübungen
beiwohnte. Den unbestrittenen Höhepunkt stellten die Übungen im letzten Drittel
der Vorführungen dar, an dem die ausgewählte und im Sippenbuch eingetragene
atlantische Jugend Artams vor ihren Führer trat, so wie sie Gott und die Rasse
geschaffen hatte. Erst reckte und streckte sich die männliche Jugend in
strengem Takt, dann die weibliche voller Glaube und Schönheit, zum Schluß ein
harmonisches Bild mit einem Geschlechterverhältnis von vier zu eins. Diese
Übungen wirkten wie ein Faszinosum sondergleichen, von dem die gesamte Welt
schwärmte, aber noch nie einen zusammenhängenden Bildbericht gesehen hatte.
Reiche Ausländer aus Nordamerika, Ostasien und Arabien schreckten nicht vor
horrenden Eintrittpreisen zurück, und ein ganzer Block mit Logen blieb für sie
reserviert. Sie kamen und zahlten für die an sie im Weltnetz versteigerten
Karten, obwohl sie sich vor dem Betreten des Stadions entwürdigenden
Leibesvisitationen zu unterziehen und jede Körperöffnung zur Kontrolle
vorzuweisen hatten. Es war streng verboten, jedwede Art von Bildaufzeichnern
mit ins Stadion zu nehmen. Dennoch verbreiteten die ausländischen Medien ein
paar miserable Fotos. Vielleicht hatte jemand eine Miniaturkamera, im After
versteckt, ins Stadion geschleust. Adrian hatte aber den Verdacht, daß die
Aufnahmen vom Zentralen Gewissen bewußt lanciert worden waren, um die Ausländer
noch geiler und zahlungswilliger zu machen. Wie dem auch sein mochte, der Geist
und der Herzschlag von Artam, der Rhythmus des Schwarzen Korps, war an keinem
Tag und bei keiner Gelegenheit mit einer solchen Eindringlichkeit zu spüren wie
in den Schlußminuten dieser Massendarbietungen; einmal abgesehen von der Parade
der wehrhaften Jungmannschaft am Ersten Mai.
In diesem Jahr hatte Adrian keine Eintrittskarte bekommen. Godela jedoch würde am Tage der Hauptdarbietung den Führer leibhaftig sehen dürfen, zum ersten Mal in ihrem Leben bei diesem Anlaß. Adrian war sich sicher, daß sie von diesem Erlebnis noch lange schwärmen und zehren würde. Denn diese Feier und Darbietung war der ureigentliche Gottesdienst des rassebewußten Artam. Die Handschar hatten ja zu dieser Veranstaltung ein eher distanziertes Verhältnis.
Adrian
erinnerte sich, als er vor zwölf Jahren zum letzten Mal selbst eine
Eintrittskarte ergattert hatte. Er allein, ohne Godela oder Gundula, denn es sollte
stets als Massenerlebnis empfunden werden, nicht als Paarerlebnis. Das
Reichssportfeld mit dem Stadion der Dreihunderttausend lag im Süden von
Reichsburg. Für die Anfahrt empfahl es sich, die Untergrundbahn zu benutzen.
Adrian fuhr nur selten mit dieser Bahn, aber um an diesem Tag ins Stadion zu
kommen, war es die allerbeste Lösung. Ab der Haltestelle Zentralkreuz waren an
dem Tage die Abteile rappelvoll gewesen, die Haltestelle Stadion-Nord ein
architektonischer Traum aus Marmor und geformten Glas. Von dem Ausgang dieser
Station zur Reichssportallee war es zu Fuß noch ein Kilometer bis zum Stadion,
dessen Glockenturm von weitem grüßte.
Die
Reichsportallee und das gesamte Reichssportfeld waren streng symmetrische
Anlagen, die auf den Glockenturm und das Stadion zustrebten. Die Allee säumten
in regelmäßigen Abständen riesige Linden (künstlich bewässerte, Adrian wußte
es) und weit übermannsgroße Bildhauerarbeiten. Hier stand das Beste an
Bildhauerkunst, was Artam in einem Jahrhundert hervorgebracht hatte. Vieles
monumentale Auftragskunst, einiges aber auch von den Künstlern aufgekauft oder
nach deren Tode von den Erben erworben worden (darunter auch Werke des
Franzosen Mallot, der Artam nie gesehen hatte). Muskelstrotzende Diskuswerfer
gleich in Mehrzahl, eine wohlproportionierte Stabhochspringerin, ein Paar
Boxer, natürlich alles nackte Idealgestalten, dann aber auch eine Anzahl von Arbeiten,
für die berühmte Spitzensportler ohne Lendenschurz Modell gestanden hatten. Für
alle ausländischen Touristen, die aus so prüden Ländern wie Nordamerika und
Ostasien kamen, war ein Spaziergang entlang der Reichssportallee ein Muß, von
dem sie zu Hause mit Schaudern erzählten und damit neue Touristen anlockten. Weltweit
übertraf keine Sammlung der Bildhauerkunst den Ruhm dieser Allee. Der riesige
Fries der ringenden Recken rechts und links des Glockenturms schlug jeden
Betrachter in seinen Bann. Nackte atlantische Heldengestalten rangen auf der
linken Seite eine Überzahl von kleineren Untermenschen nieder, auf der rechten
eine andere Art, die man unschwer links als Mohren und rechts als Ostasiaten
erkennen konnte.
Vor dem Betreten
des Stadions mußte man noch eine peinliche Sicherheitskontrolle über sich
ergehen lassen. Seitdem einmal vor Jahrzehnten bei einer Parade, aber nicht
hier in diesem Stadion, sondern in Wolgaburg, eine ganze vollbesetzte Tribüne
in die Luft gesprengt worden war, konnten die Sicherheitskontrollen nicht
scharf genug sein. Mit allen möglichen Detektoren wurden das Stadion, seine
Zugänge und jede Statue und jede Säule auf eventuell verborgene Sprengkörper
untersucht. Jeglicher Luftverkehr um Reichsburg ruhte. Alle Kanalisationsdeckel
waren zugeschweißt worden. Die gesamte Luftabwehr von Artam konzentrierte sich
darauf, einen möglichen Überraschungsschlag mit Raketen gegen das vollbesetzte
Stadion abzufangen. Selbst im Großen Chaos hatte man ihn verhindert. (Zwei
Anschlagsversuche waren damals im Keim erkannt und erstickt worden). Aber das
Sportfest bot stets die beste und nur alle vier Jahre wiederkehrende
Gelegenheit, die Führung von Artam zu enthaupten (auch wenn der Erste
Stellvertreter des Führers nicht gleichzeitig mit dem Führer anwesend sein
durfte) und seine Elite sehr empfindlich zu treffen.
Nach dem
Passieren der Kontrolle durfte man endlich die Stufen zum Stadion
emporschreiten. Das erwartungsfrohe Schreiten verlieh dem Tag und Ort Weihe und
Würde. Aus den Lautsprechern dröhnte feierliche Musik: „Grüßet die Fahnen,
grüßet die Zeichen, grüßet den Führer, der sie schuf, grüßet alle, die für sie
starben, folget getreulich ihrem Ruf.“ Das Stadion präsentiert sich als ein
gewaltiger Bau. Von seiner Krone, die man überschreiten muß, um auf seine Reihe
und seinen Platz hinabzufinden, bietet sich ein weiter Blick auf Reichsburg und
seine monumentalen Bauten. Im Norden die vier Ämter (die Moschee stand damals
noch nicht), die Reichsparadestraße mit dem Triumphbogen der Rasse, im Süden mit
der Siegessäule; im Westen das Deutsche Tor und im Osten das
Reichsheldenehrenmal. Zwischen dem Reichssportfeld und dem Verwaltungsviertel
mit den Ämtern erstreckt sich das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der
Metropole mit der Reichsfilmhalle, dem Reichsschauspielhaus, der (kaum noch
direkt benutzten) Reichsbibliothek, der Reichsbank, dem Reichsgericht, der
Reichswirtschaftskammer, der Börse und den marktbeherrschenden Kaufhäuser
Neckermann, Urquell, Allda und Kloppenburg. Im letzteren - im Eigentum einer
steinreichen Clan-Familie, ebenso wie die beiden vorgenannten - gaben Godela
und Gundula gern das Geld aus und nicht nur für Dinge, die sie unbedingt benötigten.
(Man bestellte aber oft über Direktversand mit Lieferung durch Roboter direkt
ins Haus.) Aber die Ausgaben hielten sich in Grenzen, seine Weiber waren ja
halbwegs vernünftig.
Wenn man
endlich seinen Platz auf der Tribüne gefunden hatte: Ein kurzes Grüßen nach
rechts und links, alles fremde Gesichter, linkerhand hatte man Nordisch
gesprochen, erinnerte sich Adrian - es
waren auch Norweger aus Trondheim, wie er im Laufe des Abends herausfand –
setzte die Musik ein, die sich steigerte und eindringlicher wurde. Dann
Fanfaren: „Vorwärts! Vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren. Vorwärts! Vorwärts,
Jugend kennt keine Gefahren. Artam, du wirst leuchtend stehn, mögen wir auch
untergehn. Vorwärts! Vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren. Vorwärts!
Vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren. Ist das Ziel auch noch so hoch, Jugend
zwingt es doch. Unsere Fahne flattert uns voran, in die Zukunft ziehn wir Mann
für Mann. … Jugend! Jugend, wir sind der Zukunft Soldaten. Jugend! Jugend,
Träger der kommenden Taten. … Führer, dir gehören wir, wir Kameraden dir!“ Wie
oft hatte es Adrian in seiner Jugend gesungen und mit welch inbrünstiger
Begeisterung.
Ein
Paukenschlag, der Sportführer: Er tritt an das Rednerpult, das sich als
quadratischer Festpunkt aus der baulichen und menschlichen Masse heraushebt;
Hanno von der Tanne begrüßt den Führer. Ein Musikschlag, als öffneten Himmel
und Hölle zugleich ihre Tore, und aus einem verdeckten Gang entsteigt der
Führer und tritt ans Rednerpult. Eine Totenstille. Dann das Erlösende: „Mein
Volk, Frauen und Männer von Artam, Jugend von Artam, Kameraden, ich eröffne ...
.“ Als er zum Schluß seiner Begrüßungsworte die Hand zum Sonnengruß erhebt,
sein Antlitz auf einen riesigen Bildschirm projiziert wird, reißt es alle von
den Plätzen. Wenn Adrian hätte sitzenbleiben wollen, er hätte es nicht
vermocht. Dreihunderttausend Arme erheben
sich zum Sonnengruß, und das Echo wirft das „Heil, heil, heil“ aus dreihunderttausend Kehlen
mehrfach zurück. Nur die einsetzende Musik und der Programmbeginn setzten der
Begeisterung ein vorläufiges Ende.
Das Stadion
besaß eine ausgeklügelte Akustik, die den berühmten Kompositionen von Volkhard
Bräutigam eine besonders eindringliche Wirkung verschaffte. Orgelmusik, die
durch Mark und Bein ging, mit Verstärkern und Dopplern im gewaltigen Rund
raffiniert verteilt. Ehe die Dämmerung einsetzte, sprangen an diesem Abend
mehrere hundert Fallschirmspringer ins Stadion. Diese Vorführung hatte man dann
aber schon beim nächsten Reichswettkampf abgesetzt, nachdem es bei den Übungen
zu einem tödlichen Unfall gekommen war. Einen solchen Stimmungsbruch, das war
das letzte, was man an einem solchen Abend voller disziplinierter Harmonie
darbieten wollte. Licht und Farben und die gekonnte Bewegung trainierter
sportlicher Körper vereinten sich mit der Musik zu einer Symphonie von Kraft
und Freude, die auf die Zuschauer übersprang. Der Führer verharrte die gesamte
Zeit allein am Rednerpult, und gelegentlich blendete die Kamera sein mildes
Lächeln in seinem von Aufmerksamkeit gespannten Gesicht auf der Riesenbildwand
ein. Alle fühlten, daß die Schau ihrem Höhepunkt zustrebte. Kurze Pause.
Völlige Stille und Leere im weiten Stadionrund.
Dann: Der Führer plötzlich mit Stahlhelm. Er nimmt den
Stahlhelm ab, tritt vor das Rednerpult, legt den Stahlhelm auf einen kleinen
Sockel, der von zwei Fackeln umrahmt ist und kniet vor dem Stahlhelm nieder.
Alle Dreihunderttausend erheben sich von den Plätzen. Der Führer: „Lasset uns
nun beten für die Kraft und die Herrlichkeit unseres Reiches in Ewigkeit. Ewige
Kraft, laß uns unsere Kinder und Kindeskinder vor Tod und Verderben schützen,
so wie wir uns beschützet haben. Gib uns
das Vertrauen zu uns selbst, so wie du es unseren Vätern gegeben hast. Laß uns
unsere Feinde verderben, und führe uns zum ewigen Lichte, die Feinde in die
Finsternis. Wir sind der Pfeil zum jenseitigen Ufer, gespannt zwischen Tier und
Übermensch. Unser ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Wir sind die
erste Rasse einer neuen Art, angetreten zu einem anderen Ziel. Gezeugt aus der
Rasse, lebend für die Rasse, vergehend in einer anderen Art. Artam.“ Etwa zweihundertsiebzigtausend
Stimmen (der Rest sind ausländische Gäste, denen in diesem Moment das Blut
friert) wiederholen: „Artam, Artam, Artam“.
Der Führer
tritt wieder ans Rednerpult zurück, der Stahlhelm mit den Runen bleibt aber
liegen und erscheint auf dem Bild in einer alles beherrschenden Großaufnahme.
Die nackte Blüte der männlichen Jugend Artams zieht, nur mit schwarzen Schärpen
bekleidet, mit Schwertern und großen schwarzen Bällen ins Stadion ein. Die
Übungen strotzen vor Kraft, ihr Tempo steigert sich, der Rhythmus der
begleitenden Musik wird härter und härter. Dann das Schlußbild, in dem die
männliche Jugend die Schwerter hält, „vor die Stunde der Welt“ (wie Gottfried
Benn dichtete). Die Zuschauer reißt es von den Plätzen, der Beifall tost. Es
folgt altpreußische Marschmusik und der Auszug der männlichen Jugend.
Danach
durchzieht eine völlig andere Musik das weite Rund, leise, weich und
einschmeichelnd. In langen Einzelreihen füllt die weibliche Jugend den
blaßroten Kunststoffteppich des Stadions, große weiße Rosen im Haar und weiße
Schärpen, sonst nichts. Große kräftige Figuren, alle um 1,70 m und höher, mit
langen weißen Bändern, die sie und ihre Körper bewegen, eher tanzend als
kraftvoll turnend, dabei sich zu Paaren und Vierergruppen formend und wieder
trennend. Nachdem ein Teil der Athletinnen die Arena verlassen hat, marschieren
wieder Männer mit Schild, Schwert und Helm (mit Helmbusch) auf den Platz, bis
das magische Zahlenverhältnis Vier zu Eins erreicht ist. Von diesem Teil der
Vorführung ist Adrian nur das Schlußbild in Erinnerung geblieben, bei dem
jeweils vier Frauen einen Mann auf seinem Schild hochheben und hochhalten, der
mit erhobenem Schwert den Führer grüßt. Für dieses Bild hatte man noch einmal
die ausgereiftesten athletisch-atlantischen Gestalten unter der nachgewachsenen
Generation ausgesucht. Der Anblick dieses Gruppenbilds konnte, wie Adrian aus
mancher Bemerkung der Kameraden entnahm, wenn sie sich über diese Vorführungen
unterhielten, eine starke Erektion auslösen, aber auch schon die bloße
Erinnerung daran. Die Strenge des grandiosen Spektakels wurde aber bald durch
nackte Kinder sehr unterschiedlichen Alters aufgelockert, die in lockeren
Gruppen ins Stadion strömten, etwa ein Dutzend pro Fünfergruppe, in den Händen
mit bunten Fähnchen in vielen Farben. Die Männer legten die Schwerter ab (sie
waren aus Kunstharz und ohne scharfe Schneide) und nahmen jeder ein kleines
Kind auf die Schulter. Eine Frau klemmte den Schild wie ein Bügelbrett unter
den Arm, je zwei Kinder faßten ein Schwert und schleppten es wie ein Stück Holz
weg, und statt mit streng disziplinierten Übungen klang alles in einer heiteren
und lockeren Unordnung aus, die alle überraschte. Auch das war Artam.
Inzwischen war
es stockdunkel geworden. Kaum hatten die aktiven Teilnehmer das Stadion unten
geräumt, zischten außen um das Stadion die ersten Raketen eines grandiosen
Feuerwerks in die Höhe, wie es nur Reichsburg alle vier Jahre erlebte. Während
des Feuerwerks hatte sich, fast unbemerkt, das Stadion unten mit den jetzt warm
bekleideten aktiven Teilnehmern erneut gefüllt. Glühendes Rotfeuer markierte
den Schluß.
Das gesamte
Licht konzentriert sich nur auf eine Stelle. Das Pult, an dem der Führer erneut
vor dem Sockel steht und niederkniet. Alle Dreihunderttausend erheben sich von
den Plätzen. Der Führer wendet sich an sein Volk und den Allmächtigen: „Lasset
uns nun beten für die Kraft und die Herrlichkeit unseres Reiches in Ewigkeit.
Ewige Kraft, laß uns unsere Kinder und Kindeskinder vor Tod und Verderben
schützen, so wie wir uns beschützet haben. Gib uns das Vertrauen zu uns selbst,
so wie du es unseren Vätern gegeben hast. Laß uns unsere Feinde verderben, und
führe uns zum ewigen Lichte, die Feinde in die Finsternis. Wir sind der Pfeil
zum jenseitigen Ufer, gespannt zwischen Tier und Übermensch. Unser ist die
Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Wir sind die erste Rasse einer neuen
Art, angetreten zu einem anderen Ziel. Gezeugt aus der Rasse, lebend für die
Rasse, vergehend in einer anderen Art. Artam.“ Weit über dreihunderttausend
Stimmen wiederholen: „Artam, Artam, Artam“. Der Reichsjugendführer Helmar von
Osten-Sacken tritt an den Führer heran, der den Stahlhelm aufnimmt und ihm den
Reichsjugendführer aufsetzt. Beide grüßen sich gegenseitig mit dem Sonnengruß.
Der Führer tritt ans Rednerpult und sagt einen einzigen Satz: „Mein Volk,
Frauen und Männer von Artam, Jugend von Artam, Kameraden, ich schließe ...
.“ Mehr als dreihunderttausend Arme
werden emporgerissen und ein langgezogenes „Heil, heil, heil“ setzt den Schlußakkord.
Die Lichter
gingen allmählich an und andächtig, langsam und wie benommen begannen die
Zuschauer ihren Rückweg, so ist es Adrian in bleibender Erinnerung geblieben.
Von der Krone des Stadions erblickte man alle hellangestrahlten Hauptgebäude
der Stadt. Bis er zu Hause war, brauchte er mehr als zwei Stunden.
Bei den
letzten Reichswettkämpfen vor vier Jahren hatte es eine sensationelle Neuerung
gegeben. Die männliche Handschar-Jugend bot in langen, sehr enganliegenden
Hosen einen rhythmischen Massentanz. Auf der Ehrentribüne saß erstmals auch ein
Handschar-Führer – Bassajew, der Kampfkommandant der Handschar im Kaukasus. Ein
Mann, der durch verwegene Taten bekannt geworden war und von den Handschar
geliebt wurde. Diesmal jedoch schienen die Handschar, aus welchen Gründen auch
immer, wieder zu fehlen. Die Vorbereitungen zu Massenübungen ließen sich nicht
verheimlichen. Aber weder Adrian noch andere Kameraden hatten davon irgendetwas
gemerkt.
Die
Vorführungen im Stadion waren zwar auch in diesem Jahr wieder der Höhepunkt der
Reichswettkämpfe, aber an allen Ecken und Enden der Stadt war viel los. Nicht die schmale Elite der
Leistungssportler, die Artam bei den Olympischen Spielen würdig vertrat und
stets mit sehr vielen Medaillen zurückkam, stand im Mittelpunkt der Kämpfe,
sondern eine große massensportliche Veranstaltung jagte die andere. Es verging
kein Tag, an dem nicht stundenweise die Reichsparadestraße und andere wichtige
Straßen für den Autoverkehr gesperrt waren, weil ein Marathonlauf zu Fuß, mit Skates,
ein Radrennen, Triathlon oder sonst etwas für irgendeine Altersklasse oder
Geschlecht auf dem Programm stand und jeweils Tausende Teilnehmer die Straßen
füllten, zuzüglich Zehntausende Zuschauer. Für jeden gesunden Einwohner von
Reichsburg und seiner näheren und weiteren Umgebung war es eine
Selbstverständlichkeit, mindestens an einem Wettkampf aktiv teilzunehmen. Die
besseren Massensportler kamen aus ganz Artam zusammen, ob nun aus Oslo,
Kopenhagen, Astrachan, Lublin, Odessa oder Orenburg und aus den Dörfern und
Gütern. Jede Wettkampfteilnahme brachte einen mehrtägigen Aufenthalt in der
Hauptstadt mit sich, den die unverheiratete Jugend von Artam als ein Ereignis
in ihrem Leben ansah, das man sich nicht entgehen ließ. Die Reichswettkämpfe
waren der Liebes- und Heiratsmarkt von Artam schlechthin.
Adrian als
begeisterter Innenkantenfahrer hatte sich wochenlang auf den Start zu einem
Marathonrennen in der Altersklasse der über Vierzigjährigen vorbereitet. Wenn
er abends trainierte, stieß er an allen Ecken und Enden auf junge Leute, die
flanierten, lachten und sich auf Bänken und an Bäumen paarten. Es war sowieso
schon heißes Wetter, aber die Brünstigkeit der atlantischen Jugend steigerte
die Hitze fast zur Unerträglichkeit. Nur die Handschar-Jungmannschaft hielt
sich züchtig zurück. Ihr weiblicher Nachwuchs verließ die privaten Grundstücken
nicht, ihre Väter und Brüder hätten es auch nicht geduldet.
Für die
Sicherheitspatrouillen brachten diese Tage Riesenprobleme. Ununterbrochen
kreisten Hubschrauber. Über die engumschlungenen Pärchen sahen die Patrouillen
und die Älteren großzügig hinweg. Dafür mußte man im Alltag immer mal mit einer
Razzia rechnen, die einem eine halbe oder ganze Stunde aufhalten konnte.
Plötzlich stand man vor einem abgeriegelten Straßenabschnitt abgeriegelt, und
von jedem wurde die Kennung abverlangt. Gelegentlich erfolgten sogar Blutproben
für AIDS-Tests oder Abstriche, denen man sich nicht entziehen konnte.
Auch in
Adrians Haus logierten vier junge Leute, zwei Kerle von einem Gut bei Scharkau
und zwei Maiden aus Reval. Sie bekamen Besuch von anderen Jugendlichen und
besuchten ihrerseits ihre Kameraden in anderen Quartieren. „Laßt doch der
Jugend, der Jugend ihren Lauf, laßt doch der Jugend ihren Lauf. Hübsche Mädchen
wachsen immer wieder auf, laß doch der Jugend ihren Lauf.“ Richtige Wehmut
ergriff Adrian beim Hören des Liedes. War er damals in Lemberg noch jung, als
er es mitgesungen hatte!
Adrians eigene
Kinder wurden wie in einem Strudel mitgerissen, vor allem die größeren. Sie
verabredeten sich mit den Quartiergästen im Haus und außer Haus und trainierten
für die Wettkämpfe, an denen sie teilnahmen. Adrian hatte es längst aufgegeben,
über die Aktivitäten seiner Kinder die Übersicht und Kontrolle behalten zu
wollen, und die wieder einmal schwangere Godela und die stillende Gundula
rangen die Hände. Ihren unberechtigten Vorhaltungen, er kümmere sich nicht
genug um seine Kinder, entgegnete er
trocken, er hätte sie beide ja auch nicht als Jungfrauen kennengelernt. Nach
seiner Einschätzung nahm er am Leben seiner Kinder teil, so weit es seine Zeit
erlaubte. Ihr erstes bewußte Lächeln als Baby, ihr erstes Greifen nach der
Klapper und die ersten zaghaften Schritte – für ihn stets unvergeßliche
Momente! Der erste Geburtstag eines Kindes, das war der Tag, an dem seine
Mutter die allergrößte Dankbarkeit verdiente. Und dann das spannende zweite
Lebensjahr, in dem die Sprache reifte, mit den vielen lustigen Versuchen, die
ersten Sätze zu bilden. Keines seiner Kinder wollte Adrian missen. Aber insofern
hatten Godela und Gundula schon recht, wenn die Kinder größer und verständiger wurden,
wußte er mehr mit ihnen anzufangen. Seine Familie, seine Kinder trugen gute
Anlagen für verschiedene Ausdauersportarten in sich. Zwar war keiner von ihnen
olympiaverdächtig, aber alle belegten bei Massenläufen vordere Plätze. (Von
Godela und Gundula waren ein Urgroßvater väterlicherseits, Richard Harbig, ein
herausragender Mittelstreckenläufer gewesen, und eine Urgroßmutter
mütterlicherseits, Gisela Busch, eine bekannte Siebenkämpferin.) Jeden Abend
trainierte Adrian mit den Söhnen Gisbert und Gunnar und der Tochter Ingrid ein
bis drei Stunden auf Innenkantenskates für den Marathonlauf, an dem sie
teilnehmen wollten.
Die Familien
blieben aber nicht unter sich, sondern man schloß sich an den Abenden zu losen
Gemeinschaften zusammen, die sich in kleinen Gruppen jagten und wieder auflösten.
Man fuhr nur kurze Zeit seine Höchstgeschwindigkeit, so daß auch Zeit blieb zum
Nebeneinanderherrollen und zur Unterhaltung. Mit dem etwas jüngeren
Hauptsturmführer Helmut Wölke, der im Reichsspeeramt als Rechtswahrer und
Rechtsberater angestellt war, hatte Adrian eine gleiche Wellenlänge gefunden,
und sie tauschten oft ihre Meinungen über Tagesereignisse aus, ohne tiefer zu
loten. Das Thema „Würdiges Sterben“, ein heißes Eisen, diskutierte man gerade
wieder einmal in den Medien. Für passive Sterbehilfe und das Abschalten von
Apparaten gab es einen gesetzlichen Rahmen, aber aktive Sterbehilfe war in
Artam stets verboten, auch zu einer Zeit, als im Altreich im Großen Chaos
während der Altenpogrome zeitweise alle sittlichen Dämme gebrochen waren. Aber
es gab Grenzfälle, die immer wieder die Gemüter bewegten. Sowohl Adrian als
auch Wölke hatten in ihren Kampfjahren die Leiden tödlich verwundeter Kameraden
mit ansehen müssen. Aber darum ging es jetzt bei der öffentlichen Diskussion
nicht.
Nach einer
halben oder dreiviertel Stunde Skaten nahm Adrian dann noch ein Paar bis zu den
Ohren reichender Stöcke zu Hilfe, mit denen er sich abstieß. Dieses
Innenkantenskaten im Nordischen Stil galt, wegen der Mitbeanspruchung der
Schultermuskulatur, zwar körperlich als besonders zuträglich, aber bei den
Massenrennen waren Stöcke in der Regel nicht zugelassen. Die letzten acht Tage
vor dem eigentlichen Wettkampf kam es vor allem darauf an, nicht krank zu
werden und die erreichte Form zu halten. Jede, auch nur leichte, Infektion
konnte den Spaß an der Sache verderben und die Folge von übertriebenem
Trainingseifer sein.
Sich zu den
Reichswettkämpfen anzumelden, war kein Privileg des Schwarzen Korps und seiner
Kinder, sondern stand allen Staatsbürgern offen. Auf verschlungenem Wege hatte
Adrian von Ludmila erfahren, daß sich auch German in Reichsburg aufhielt. Er
würde unter anderem im Südoststadion an einem Wettkampf im Stabhochsprung
teilnehmen. Adrian entschloß sich, an diesem Tag und für diese Stunden freizunehmen.
Es war ein
Donnerstag und ein Tag wie jeder andere in den Wettkampfwochen, Straßen, Plätze
und öffentliche Gebäude mit Flaggen geschmückt. Aus zahlreichen Lautsprechern
dröhnte forsche Marschmusik. In der Luft wimmelte es von Hubschraubern,
Zeppelinen und Ballons, von denen man nicht wußte, ob sie zum Vergnügen oder
zur Kontrolle kreisten. Abends, in der Dunkelheit, zündeten die Leuchtschriften
und zauberten Laserstrahlen riesige Hologramme in die Luft. Kurze einprägsame
Sprüche, wie „Die Rasse ist das ewige Leben“ oder „Der Führer ist bei Euch“, an
denen es Artam noch nie gemangelt hatte, die Runen der Stämme des Korps oder
ganze Personen, ja sogar zwei nackte kämpfende Ringer.
Jetzt, am Tag,
wartete Adrian im Südoststadion, das er vorher noch nie betreten hatte, auf den
Beginn des Stabhochsprungs. Er wußte, daß auch Ludmila in dem nur locker mit
Zuschauern gefüllten Stadion anwesend sein mußte, konnte sie aber nirgendwo
entdecken. Sich hier im Stadion direkt zu treffen oder gar nebeneinander zu
stehen, war viel zu gefährlich, denn mit Sicherheit wurde jede Bewegung im
Stadion gefilmt. Da links, erkannte Adrian German unter den Wettkämpfern, die
noch im Trainingsanzug waren und sich im Stadion für den Wettbewerb aufwärmten.
Die Zuschauer sprachen Russisch, Deutsch oder Nordisch, auch Finnisch oder
Estnisch hörte Adrian (er konnte den Klang beider Sprachen nicht
unterscheiden). Dort schwenkte unten in der zweiten Reihe eine Frau, die Haare
im Kopftuch, eine weiße Rose in der linken Hand, ihr vereinbartes
Erkennungszeichen. Es konnte nur Ludmila sein. Adrian veränderte seinen
Standort und näherte sich Ludmila bis auf etwa zehn Meter. Ihre Blicke trafen sich
kurz, und sie lächelten einander zu. Erst fand noch ein 800-m-Lauf statt, dann
wurden die Stabhochspringer aufgerufen, die Qualifikationshöhe zu nehmen. Als
German den Trainingsanzug ausgezogen hatte – die Springer trugen bei der
Spätnachmittagswärme nur ganz kurze Hosen – war Adrian beeindruckt. Dann diese
Kraft in der Bewegung, das Hochschnellen des Körpers, diese Eleganz des
Bewegungsablaufes, da hielt keiner in der Familie mit. German, sein
Prachtjunge, man konnte es nicht anders sagen, wie hatte er sich doch
hervorragend entwickelt! Das Stabhochspringen würde etwa zwei Stunden dauern.
Wenn Adrian den Kopf leicht drehte, konnte er Ludmila sehen, die bestrebt war,
ihre Aufmerksamkeit unauffällig zwischen German und Adrian zu teilen. Nach etwa
einer Stunde war Ludmila verschwunden. Sie hatten vereinbart, sich außerhalb
des Stadions bei einer Baumgruppe im angrenzenden Park zu treffen. Es sollte
wie eine zufällige Begegnung aussehen. Adrian hielt einen Briefumschlag mit
Geld in der geschlossenen Hand. Er sah Ludmila stehen und ging in ihre
Richtung. Als er ihre Höhe erreichte, ließ sie wie unabsichtlich einen Beutel
fallen, den er aufhob und ihr, zusammen mit dem Briefumschlag, in die Hand
drückte. Sie bedankte sich höflich, als wäre er ein Fremder. Dann trauten sie
sich doch, ein paar Worte zu wechseln. An einen Kuß war nicht zu denken.
„Mir geht es gut“, sagte sie.
Er: „Ich bin
stolz auf German.“
Sie lächelte,
etwas gequält.
„Es ist
sicherer, wir gehen jetzt wieder auseinander.“
Sie gingen
getrennt wieder zurück ins Stadion und standen danach in einem größeren Abstand
voneinander. German wurde in seiner Disziplin Dritter. Aber Adrian konnte sich
nicht mehr richtig freuen. Ein Glückwunsch, ein Handschlag, wonach es ihm
drängte, es war ausgeschlossen. Eine Vorahnung stieg in ihm hoch und sagte ihm,
daß nun alles auf eine persönliche Katastrophe hinauslief und bald. Als Dritter
gehörte German zu den Medaillengewinner, deren genetischer Kode stets
gespeichert und verglichen wird. Daran konnte Adrian nichts ändern, und er
hatte darauf keinen Einfluß. Das Verhängnis mußte seinen Lauf nehmen. Wieviel
Zeit blieb eigentlich noch?
Ihm war auch
schon der Gedanke gekommen, mit Ludmila und German ins Ausland, ins Alte
Europa, zu flüchten und dann weiter. Auf alle Fälle besser, als in Artam zu
scheitern. Denn vorbei die Zeiten, in denen man jeden Deserteur aus dem
Schwarzen Korps wie ein flüchtiges Wild um den ganzen Erdball jagte und erlegen
ließ. In Valdivia, der einzigen gebliebenen Wohlstandsinsel in Südamerika, könnten
sie vielleicht untertauchen. Diesen absurden Gedanke verdrängte er sofort
wieder: Es war ohne Aufzufallen nahezu unmöglich, größere Geldsummen ins
Ausland zu transferieren oder Wertsachen zu erwerben, um sie auf der Flucht
mitzunehmen. Nie und nimmer ließ er seine Familie im Stich! Wie ein Mann würde
er durchs Fegefeuer gehen müssen. Dem konnte er sich nicht entziehen.